Die Europäische Kommission hat jüngst das erste stammzellbasierte Medizinprodukt zugelassen. Holoclar nutzt autologe Stammzellen, um Patienten mit schweren Hornhautverletzungen wieder das Sehen zu ermöglichen. Der erste Schritt hin zu neuen Therapieformen.
Holoclar gehört zu den sogenannten „biotechnologisch bearbeiteten Gewebeprodukten“ und stellt eine neuartige Therapieform dar. Limbusstammzellen werden dem Patienten entnommen und im Labor auf einer Membran kultiviert. Die Membran samt Zellen wird dann in das Auge des Patienten implantiert. Zugelassen ist das Produkt für die Therapie von Erwachsenen mit mittelschwerer bis schwerer Limbusstammzellinsuffizienz. Bei der Erkrankung bildet der Limbus, die Übergangszone zwischen Lederhaut und Hornhaut, infolge von Verbrennungen oder Verätzungen nicht mehr genügend Stammzellen. Beschädigte Zellen des kornealen Oberflächenepithels können nicht ersetzt werden. Dies führt dazu, dass Epithelzellen der Konjunktiva in die Kornea einwandern, um das verletzte Auge nach außen zu schützen. Allerdings rufen diese Zellen auch Entzündungsprozesse, Narbenbildung, Hornhauttrübung und schließlich Blindheit sowie starke Schmerzen hervor.
Die Zulassungsentscheidung der Europäischen Kommission beruht überwiegend auf den Ergebnissen der retrospektiven Beobachtungsstudie HLSTM01. Darin konnte gezeigt werden, dass 75 der 104 mit Holoclar behandelten Patienten (72,1 %) 12 Monate nach der Intervention ein stabiles Korneaepithel ohne signifikante Neovaskularisation aufwiesen. Der Anteil der symptomatischen Patienten mit Schmerzen, Brennen oder Photophobie verringerte sich deutlich: Während vor dem Eingriff 40 Patienten (38,5 %) unter mindestens einem dieser Symptome litten, waren es ein Jahr nach der Transplantation nur noch 12 Patienten (11,5 %). Auch die Sehschärfe verbesserte sich bei 51 Patienten (49,0 %) um mindestens eine volle Zeile auf dem Snellen-Index. Im Jahr 2010 im New England Journal of Medicine veröffentlichte Daten zeigen, dass der Holoclar-Eingriff bei 76,6 % der Patienten erfolgreich war. Mittlerweile liegen Ergebnisse einer multizentrischen prospektiven Studie [Paywall] vor, die bestätigen, dass Holoclar bei der Mehrheit der behandelten Patienten (Erfolg: 66,1 %, Teilerfolg: 19,1 %) zur Ausbildung stabiler, transparenter Korneaepithele führte. Nicht unerwähnt bleiben sollte die Tatsache, dass zwei der Autoren im Management von Holostem Advanced Therapies, dem Hersteller von Holoclar, sind.
Holoclar kann nur bei Patienten verwendet werden, die noch Limbusstammzellen besitzen. Mittels Limbusbiopsie wird ein 1-2 mm2 großes Gewebestück aus dem ungeschädigten Auge (oder bei einer beidseitigen Schädigung aus einem kleinen gesunden Limbusbereich) entnommen und an den Hersteller im italienischen Modena geschickt. Die Stammzellen werden in einem Zellkulturlabor mithilfe muriner Feeder-Zellen vermehrt. Die Zellsuspension wird eingefroren, bis ein Transplantationstermin feststeht. Aus den aufgetauten Zellen wird eine konfluente Zellschicht auf einer Fibrinmembran gezüchtet und das fertige Holoclar-Produkt wird an das Krankenhaus geschickt, in dem die Transplantation stattfindet. Dort muss es unverzüglich operativ in das Auge des Patienten implantiert werden.
Während eine primäre Limbusstammzellinsuffizienz (limbal stem cell deficiency, LSCD) dadurch gekennzeichnet ist, dass der Erkrankung keine erkennbare Ursache zugrunde liegt, wird eine sekundäre LSCD durch Verletzungen des Auges verursacht. Hierbei kann es sich um Krankheiten der Augenoberfläche handeln (z.B. beim Stevens-Johnson-Syndrom) oder um chemische/thermische Verbrennungen, Schäden durch UV- und ionisierende Strahlung, bullöses Pemphigoid des Auges, schwere mikrobielle Infektionen, das Tragen von Kontaktlinsen sowie multiple augenchirurgische Eingriffe oder Kryotherapien. Bei den chemischen Verbrennungen als Ursache einer LSCD spielen Laugen die Hauptrolle, da basische Agenzien schnell das Augengewebe durchdringen und zu umfangreicher Nekrose der Epithelzellen und Stromazellen-Denaturierung führen. In Europa sind jedoch nur wenige Menschen von dieser Krankheit betroffen: Die Prävalenz wird auf 0,34 pro 10,000 Einwohner geschätzt. Aus diesem Grund besitzt Holoclar bereits seit November 2008 den Orphan Drug-Status. Bisher beschränkte sich die Therapie der LSCD darauf, Hornhäute von Spendern zu transplantieren, um die Transparenz der Augenoberfläche wieder herzustellen. Doch ohne Stammzellen kann das Hornhauttransplantat nicht langfristig überleben. „Der einzige Weg, um die Integrität der Kornea wieder herzustellen, ist, durch die Transplantation von Limbusstammzellen einen gut funktionierenden Limbus zu regenerieren“, erklärt Dr. Paolo Rama [Paywall], Ophthalmologe am San Raffaele Klinikum in Mailand und Ko-Autor der bisher veröffentlichten Holoclar-Studien.
Holoclar ist jedoch bei weitem nicht das einzige Produkt, das auf Limbusstammzellen beruht – beispielsweise hat eine Gruppe um den Ophthalmologen Dr. Virender Singh Sangwan am LV Prasad Augeninstitut in Indien ebenfalls eine Therapie entwickelt, die autologe Stammzellen nutzt. Die Zellkultur dieser Gruppe kommt sogar ganz ohne tierische Komponenten aus, während bei Holoclar Feeder-Zellen der Maus zum Einsatz kommen. Daten zur erfolgreichen Therapie der ersten 200 behandelten Patienten sind bereits veröffentlicht worden, und auch Kinder lassen sich erfolgreich mit dieser Methode therapieren. Ein anderes Medizinprodukt namens ReliNethra, das ebenfalls frei von tierischen Komponenten ist, stammt auch aus Indien und ist dort zur Behandlung einer Vielzahl von Ursachen der LSCD zugelassen, während Holoclar (bisher) nur bei durch Verbrennungen bedingter LSCD eingesetzt werden darf. Dr. Sangwans Gruppe geht aber sogar noch einen Schritt weiter und hat kürzlich eine Technik veröffentlicht, bei der die Stammzellen direkt auf der Augenoberfläche kultiviert werden. Eine Vermehrung der Zellen in einem Speziallabor würde auf diese Weise entfallen, so dass die Methode „überall eingesetzt werden kann, wo ein augenchirurgischer Operationssaal und ein Korneachirurg zur Verfügung stehen“, so Dr. Sangwan [Paywall]. Bereits mehr als 200 Personen seien mit dieser neuen Methode behandelt worden, und die Erfolgsrate sei so gut oder sogar besser als bei der konventionellen zellkulturbasierten Therapie.
Alle autogenen Stammzelltherapien haben jedoch einen entscheidenden Nachteil: Sie können nur eingesetzt werden, wenn der Patient noch eigene Limbusstammzellen besitzt. Ist dies nicht der Fall, müssen allogene Spender-Stammzellen verwendet werden, allerdings ist dann eine lebenslange Therapie mit Immunsuppressiva erforderlich. Therapien wie Holoclar können also nur als ein erster Schritt bezeichnet werden, meint auch Dr. Alex Shortt, Ophthalmologe am University College London. „Während die Markteinführung [von Holoclar] wirklich ermutigend ist und es toll zu sehen ist, dass zellbasierte Therapien so weit kommen können, ist es meiner Meinung nach das am einfachsten von uns zu lösende Problem in Bezug auf diese Patientenpopulation“, erklärt Dr. Shortt [Paywall]. „Menschen mit einseitigen chemischen Verletzungen sind die am einfachsten zu behandelnde Gruppe, sie sind aber nicht unbedingt die größte Gruppe, denn wenn man alle Patienten mit bilateralen Erkrankungen aufsummiert, hat man weit, weit mehr Patienten – und für diese haben wir keine gute Therapie.“ Aus diesem Grund arbeiten Holoclar-Pioniere wie Prof. Grazielle Pellegrini und Prof. Michele De Luca nicht nur daran, die bestehende Technik zu verbessern, sondern sie suchen auch nach neuen Wegen für zellbasierte Therapien. „Das von mir angestrebte Hauptziel für die Zukunft von Holostem ist die Gentherapie“, verrät Prof. De Luca, wissenschaftlicher Direktor und einer der Gründer von Holostem sowie Direktor des Zentrums für Regenerative Medizin an der Universität von Modena, Italien. „Sobald Sie eine Stammzelle gut genug kennen, Sie wissen wie sie funktioniert und sie in einer Zelltherapie einsetzen können, dann sind Sie auch in der Lage über die Genetik nachzudenken und wie sie modifiziert werden könnte, um genetisch bedingte Krankheiten zu heilen.“ Der Fokus seiner Arbeit liegt zurzeit auf Epidermolysis bullosa, einer quälenden Erkrankung, bei der die Haut blasen wirft und sich vom Körper ablöst. Prof. De Luca verfolgt den Ansatz, autologe epidermale Stammzellen aus Keratinozyten-Kulturen des erkrankten Patienten zu verwenden. Ziel ist es, sie mithilfe retroviraler Vektoren gentechnisch so zu verändern, dass sie eine funktionsfähige Variante des mutierten Gens exprimieren. Aus diesen „korrigierten“ Stammzellen werden dann Epidermiskulturen gezüchtet und dem Patienten transplantiert. Die Ergebnisse einer ersten klinischen Studie der Phase I/II zeigen, dass auch mehr als sechs Jahre nach der Transplantation die transgene Epidermis voll funktional und kaum von einer gesunden Epidermis zu unterscheiden war. Der nächste Schritt ist nun, die Technik an mehr Patienten zu testen – hierfür kollaboriert Holostem mit der Hautklinik des Universitätsklinikums Salzburg. „Wir versuchen, den gleichen Weg zu gehen wie bei Holoclar, um diese Gentherapie den Betroffenen zugänglich zu machen. Das ist mein Traum, bevor ich in Rente gehe“, so De Luca. Gut möglich, dass dieser Traum tatsächlich in Erfüllung geht.