„Es wird meinungsbasierte Medizin gemacht, nicht evidenzbasierte.“ So erlebt ein Assistenzarzt den Klinikalltag in Deutschland – und beobachtet folgendes Problem: Zwischen Jung und Alt klappt es oft nicht mit der Kommunikation.
Mahdi Al-Dayyeni ist Assistenzarzt für Viszeral- und Gefäßchirurgie. Im Gespräch mit den DocCheck News erzählt er von seinen Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem. Im Arbeitsalltag in deutschen Kliniken beobachtet er immer wieder Kommunikationsprobleme zwischen der jüngeren und der älteren Ärztegeneration.
Dazu muss ich erstmal sagen: Ich bin vor etwa fünf Jahren aus dem Irak nach Deutschland gezogen. Die erste Arbeitszeit hier war für mich also doppelt spannend, durch den Landeswechsel und den Berufsanfang. Ich weiß vor allem noch, wie überrascht ich war. Ich dachte, dass hier alles getaktet ist in der Medizin. Und dass sich superstreng an Leitlinien gehalten wird, weil die über allem stehen. Den Ansatz fände ich grundsätzlich gut. Denn die eigene Meinung sollte in der praktischen Medizin nicht zu sehr zählen – persönliche Überzeugungen können schnell vom Richtigen abweichen.
Die Realität im Krankenhausalltag in Deutschland war für mich dann aber oft eine andere: Es wird meinungsbasierte Medizin gemacht, nicht evidenzbasierte. Und das bringt mich zu einem Thema, das mir sehr wichtig ist: Die Kommunikation zwischen Jung und Alt. Wenn es in dieser vermeintlich fachlichen Diskussion unter Kollegen eigentlich um die Meinung geht, hat man aber eine schlechte Diskussionsbasis. Das kann auch schnell gefährlich werden.
Autonomie an sich ist gut – aber hier empfinde ich sie oft als zu ausgeprägt. Was bringt mir die beste, aktuelle Leitlinie, wenn ich mich nicht an sie halte? Ein Beispiel: In einer Klinik, in der ich zu der Zeit gearbeitet habe, wurden einem Patienten zwei Antibiotika mit praktisch deckungsleichem Wirkspektrum gegeben. Als ich dann nachgefragt habe, weil ich es einfach wissen und lernen wollte, hieß es nur „Mit zwei Hammern auf einen Nagel ist besser.“
Das war die einzige Erklärung, die ich vom erfahrenen Kollegen dazu bekommen habe. Das ist, was ich damit meine, dass die Medizin manchmal zu sehr meinungsbasiert und zu wenig evidenzbasiert praktiziert wird. Das ist bedenklich. Problematisch ist auch, dass dieses Nachfragen bei Kollegen oft komisch ankommt. Viele fühlen sich dann schnell persönlich angegriffen. Und so wird es dann auch für die nachrückende Ärztegeneration schwierig, Dinge anzusprechen.
Mahdi Al-Dayyeni ist Assistenzarzt für Viszeral- und Gefäßchirurgie.
Genau. Und weil sie dann Gefahr laufen, eines Tages genauso zu reagieren, wenn sie von den Jüngeren gefragt werden. Junge Ärzte müssen einfach besser angeleitet werden. Sie haben noch keine eigenen Erfahrungswerte und vertrauen auf das Fachwissen der älteren Ärzte. Das ist auch richtig, nur so kann man lernen: Das Wissen aus dem Studium mit den Erfahrungen der Älteren kombinieren und eigene Schlüsse ziehen. Aber wenn dann keine echten Erfahrungen vermittelt werden, zieht man sich auch wieder nur sture Ärzte heran. Die denken dann ‚Mein Chef hat das immer so gemacht, ich mach das auch so.’ Neues Wissen hat dann natürlich keine Chance. Und alte Fehler, falsch gelernte Dinge fallen dann eventuell auch nie auf.
Junge Kollegen müssen also etablierte Vorgehensweisen hinterfragen, das ist sozusagen ihre Aufgabe im hierarchischen Gefüge. Aber diese Aufgeschlossenheit wird dadurch gefährdet, und auch zerstört, dass sie oft mit wenig sinnvollen und persönlich geprägten Antworten abgespeist werden. Nicht immer, aber meistens. Wenn man die Kommunikation unter Kollegen nicht ändert, kann ich mir gut vorstellen, dass man in 10 Jahren mit den jungen Ärzten von heute nicht mehr debattieren kann.
Tatsächlich konnte ich diese Frage in der Vergangenheit schon öfter mit Ja beantworten. Aber es ist vor allem eine Typfrage. Denn diese Verbohrtheit geht in beide Richtungen – es gibt ältere Ärzte, die sich jeden Tag nach der Arbeit noch Zeit nehmen, in aktuelle Studien zu schauen, die auf dem neuesten Stand sind und Mentoren für die Jungen sein wollen. Und es gibt auch viele junge Ärzte, die richtig lernresistent sind. Die denken nach dem PJ, dass sie ein Superheld sind. ‚Ich weiß alles, ich kann alles’, so in etwa. So jemanden kann man dann auch oft nicht erreichen.
Insgesamt ist aber meine Erfahrung bisher, dass Jüngere ihre Meinung zu Dingen offenbar schneller ändern können. Die Wissensvermittlung sollte aber für jeden an erster Stelle stehen.
So ist es. Und um auf dem neuesten Stand zu bleiben, muss man auch einen Teil seiner Freizeit opfern, die man dann mit Journals und Studien verbringt, statt mit Sport oder der Familie. Und unsere Freizeit ist ja sowieso schon begrenzt durch die langen Dienste und Arbeitszeiten. Aber ich finde, dass hier die neuen Medien einfach stärker genutzt werden müssten, das spart schon einiges an Zeit. Ich kann beim Sport einen Bericht oder einen Podcast hören. Und Online-Veröffentlichungen sind viel schneller als gedruckte Papers oder Bücher. Da fällt mir immer die Sepsis als Beispiel ein: Da gibt es schon seit Jahren neue Erkenntnisse, die aber jetzt erst so richtig angekommen sind.
Überhaupt habe ich das Gefühl, dass gerade im Krankenhaus viele Ärzte mit Wissen von vor 4–5 Jahren unterwegs sind. Abgesehen von den Unikliniken, da werden häufig schon Artikel diskutiert, die erst vor ein paar Tagen rausgekommen sind. Aber meine Generation, ich bin gerade 31 Jahre alt geworden, steht dem Internet immer noch etwas skeptisch gegenüber. Da heißt es oft, wenn etwas nicht in Buchform veröffentlicht wurde, ist es auch nichts. Die Generation danach ist da schon offener. Natürlich muss man auch da wieder das Bewusstsein für Quellen schärfen. Nicht alles im Internet ist glaubwürdig und vernünftig, das ist klar.
Eine zentral organisierte Weiterbildung junger Ärzte und die Möglichkeit, mit Experten zusammenarbeiten zu können. Die Unikliniken sind für mich das Paradebeispiel, aber die meisten von uns arbeiten eben nicht dort, es ist nicht die Mehrheit, die das topaktuelle Wissen hat.
Es braucht insgesamt auch mehr Qualitätskontrolle. Es muss einen Rahmen geben, in dem Ärzte sich bewegen dürfen. Das geht durch Leitlinien sehr gut. Ich meine damit auch gar nicht, dass man sich sklavisch an diese Vorgaben halten muss. Manchmal sind die dort genannten Richtwerte ja auch industriell gesteuert, ich denke da an die neuen Empfehlungen zu Blutdrucksenkern in den USA. Aber ein gesunder Mix aus eigenen Erfahrungen und dem aktuellen Wissenstand weltweit sollte das Ziel sein.
Wir müssen uns einfach immer wieder bewusst machen, dass wir niemals alle Facetten einer Sache wissen und erkennen können. Aber wir können immer voneinander lernen, egal wie alt wir sind. Und so sollten wir als Ärzte eben auch voneinander und gemeinsam lernen.
Bildquelle: Road Trip with Raj, unsplash