Sie kam ohne linke Gehirnhälfte auf die Welt. Trotzdem weist die 18-Jährige außerordentlich gute Lese-Skills auf. Wie ist das möglich?
Halbes Gehirn, doppelte Leistung? Okay, diese Aussage ist vielleicht etwas übertrieben. Trotzdem ist es erstaunlich, dass eine 18-Jährige, der seit ihrer Geburt die komplette linke Hemisphäre fehlt, überdurchschnittlich gut lesen kann. Zumal sich in der linken Hälfte des Großhirns jener Bereich befindet, der bei der Sprachverarbeitung und -produktion eine wesentliche Rolle spielt.
Es handelt sich um einen seltenen Fall, den die Gehirnforscherin Salomi Asaridou von der University of Oxford schon lange untersucht. Mit dem Wissenschaftsmagazin New Scientist hat sie über ihre Erkenntnisse gesprochen. Der IQ der jungen Frau bewegt sich zwischen durchschnittlich und hoch. Beeindruckend sind vor allem ihre Lese-Skills, erzählt Asaridou. Gehirnscans zeigen, dass sie mehr von dem Gehirngewebe aufweist, das beim Lesen benötigt wird, als typischerweise der Fall ist. Tests ihrer Gehirnaktivität weisen darauf hin, dass die rechte Seite des Gehirns einige Funktionen der linken übernommen hat. Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass das Organ dazu in der Lage ist, fehlendes Gewebe zu kompensieren.
C1, so nennen die Experten im Rahmen der Untersuchungen ihr Forschungssubjekt, ist etwas anders als andere Kinder. Die Eltern bemerken das bereits sehr früh, als ihre Tochter sieben Monate alt ist. Die meisten Babys hören in diesem Alter damit auf, ihre Daumen mit der Faust zu umklammern, C1 behielt dieses Verhalten aber bei – allerdings nur mit der rechten Hand. Ein Gehirnscan im Alter von 10 Monaten machte eine Flüssigkeitsansammlung sichtbar: an der Stelle, wo sich eigentlich die linke Hemisphäre befinden hätte sollen.
Es folgte die Diagnose Hydranencephalie, eine seltene Fehlbildung des Gehirns, bei der die Großhirnhemisphären weitgehend fehlen. Statt eines funktionalen Nervengewebes finden sich dort große liquorgefüllte Hohlräume. Ist nur eine Hirnhälfte betroffen, spricht man von einer Hemihydranenzephalie.
Bisher gibt es nur neun dokumentierte Fälle weltweit. C1 wurde im Alter von 14 Monaten in ein Forschungsprojekt an der University of Chicago aufgenommen. Ein Team begleitete sie bis zum 16. Lebensjahr und führte regelmäßig Untersuchungen durch. Neben C1 beobachteten die Forscher noch 64 weitere Kinder mit gewöhnlichem Gehirn und 40 Kinder, die in den Wochen vor oder nach der Geburt Schlaganfälle erlebt hatten. Die Probanden wurden alle vier Monate auf ihre sprachlichen Fähigkeiten sowie Lese-, Mathematik-Skills und räumliches Vorstellungsvermögen getestet, bis sie etwa das Alter von fünf Jahren erreicht hatten.
Anfangs befanden sich die sprachlichen Fähigkeiten von C1 verglichen mit jenen 64 typischen Gehirnen von Kindern ihres Alters deutlich unter dem Durchschnitt. Auch ihr Vokabular war im Vergleich höchstgradig limitiert. Doch sie verbesserte sich im Laufe der Jahre enorm: Im Alter von viereinhalb Jahren hatte sie durchschnittliche Sprech-Skills entwickelt. Ihr Vokabular und ihr Satzbau verbesserten sich ebenfalls. Als C1 beinahe fünf war, hatte sie die normale Gruppe eingeholt. „Beim Großteil der Aufgaben befand sie sich im normativen Durchschnittsbereich, als sie in die Grundschule kam“, beschreibt Asaridou ihre Entwicklung.
In bestimmten Bereichen überholte C1 ihre gleichaltrigen Kollegen sogar. Zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr untersuchten Forscher ihre Fähigkeit, Laute in Wörtern zu erkennen. Diese Aufgabe löste sie besser als Kinder mit typisch entwickeltem Gehirn. Des Weiteren fiel ihre ausgezeichnete Fähigkeit zu Lesen auf. Hier erreichte sie laut Asaridou ein anspruchsvolles Level: „Sie schnitt signifikant besser ab als unsere typisch entwickelte Gruppe.“
Dabei verhält es sich keinesfalls so, dass durch die ausgeprägten Sprach-Fähigkeiten andere kognitive Fähigkeiten zu kurz kämen, wie Asaridou betont. Ihr IQ ist mittlerweile in einem „average-to-high range“ für ihr Alter angesiedelt. Ihr räumliches Vorstellungsvermögen entspricht ebenfalls dem Durchschnitt, außerdem schneidet sie außerordentlich gut bei Kurzzeitgedächtnis-Tests ab, bei denen man sich an Sequenzen oder Zahlen erinnern muss.
Eine weitere spannende Entdeckung machten die Forscher, als sie bei C1 im Alter von 14 Jahren die funktionelle Magnetresonanztomographie anwendeten, um die Gehirnaktivität zu beobachten, während das Mädchen sich Geschichten anhörte. Asaridou und ihre Kollegen verglichen die Ergebnisse mit jenen von 30 normal entwickelten Kindern im Alter von 12 bis 14 Jahren mit folgendem Ergebnis: „Die Aktivitätsstruktur von C1 ähnelte dem, was wir in der linken Hemisphäre der typisch entwickelten Gehirne sehen konnten“, berichtet Asaridou. Deshalb geht das Forscherteam davon aus, dass die rechte Hemisphäre von C1 sich angepasst hat und einige Funktionen, die normalerweise auf der linken Seite stattfinden, übernommen hat. Dazu gehört unter anderem die Sprachverarbeitung.
Eine zweite Reihe an Scans zeigte: Das Gehirn von C1 weist mehr weiße Substanz auf als typische Gehirne. Das ist das Gewebe, das Gehirnregionen miteinander verbindet und ihnen ermöglicht, miteinander zu kommunizieren. Vor allem wurde diese vermehrte weiße Substanz in jenen Regionen gefunden, die bei der Sprache involviert sind.
Der Fall von C1 ist für die Forschung besonders faszinierend, auch innerhalb der ohnehin schon seltenen Hemi-hydranencephalie. Von sechs Personen, die mit fehlender Gehirnhälfte geboren wurden, haben außer C1 nur zwei weitere keinerlei Probleme bei der Sprachentwicklung. Ob sich die Defizite kompensieren lassen oder nicht, sei abhängig von einem Mix aus Anlage und Umwelt, so Asaridou. Die Eltern von C1 erkannten schon sehr früh einen Handlungsbedarf und konnten es sich leisten, von Anfang an für Therapien aufzukommen. Auch der kleine Bruder von C1 schneidet bei Sprachtests außerordentlich gut ab. Gut möglich also, dass der genetische Faktor bei der rasanten Sprachentwicklung von C1 eine wesentliche Rolle gespielt hat. „All das ist aber Spekulation. Es ist ein komplizierter Fall mit einem einzigartigen Mix an unterschiedlichen Faktoren“, wie Asaridou zusammenfasst.
Trotzdem steht die junge Frau weiterhin vor Herausforderungen. So hat sie immer noch Schwierigkeiten, ihre rechte Körperhälfte so zu bewegen, wie sie das möchte. Generell kommt C1 in ihrem Leben aber gut zurecht und hat ihr Abitur erfolgreich abgeschlossen.
Bildquelle: David Clode, unsplash