Über Deutschlands Apotheken rollt die nächste Retaxationswelle. Steckt veraltete Praxissoftware hinter den Problemen – oder haben Apotheker ungeeignete Programme? Ein Schlagabtausch, der grundsätzliche Probleme nicht lösen wird.
Formfehler bei der Angabe pharmazeutischer Bedenken: Mit dieser Argumentation streicht die DAK-Gesundheit massenweise Gelder für öffentliche Apotheken. Das Deutsche Apotheken Portal (DAP) berichtet von regelrechten „Retaxwellen“. Ein Kollege habe DAK-Retaxationen in fünfstelliger Höhe erhalten. Axel Pudimat, Vorsitzender des Apothekerverbandes Mecklenburg-Vorpommern, bestätigte diese Angaben beim Wirtschaftsseminar in Rostock. Er berichtet von Apothekern, die trotz ihres Einspruchs Verluste von mehr als 30.000 Euro hinnehmen mussten. Pudimat zufolge gehe es der DAK-Gesundheit nicht um eine vertragspartnerschaftliche Zusammenarbeit mit Apothekern und um eine korrekte Versorgung ihrer Versicherten. Vielmehr würde versucht, formale Fehler zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil zu nutzen.
Eine Studie des IFH Institut für Handelsforschung, Köln, zeigt die ganze Tragweite des Problems. IFH-Experten befragten mehr als 200 Apothekenleiter nach ihren Erfahrungen. Sie gaben an, schätzungsweise 29 Prozent aller Retaxationen seien auf Formfehler zurückzuführen. Unter allen beanstandeten Rezepten retaxierten GKVen 25,6 Prozent auf null. Nahezu alle Interviewten sprachen von „erheblichem Zeitaufwand“, um Verordnungen intensiv zu prüfen beziehungsweise Schreiben von GKVen zu bearbeiten. Sie fordern nahezu einstimmig, bei Retaxationen aufgrund von Formfehlern sollte der Apotheke zumindest der Einkaufswert erstattet werden. Auch sei es höchste Zeit, dass die Politik Kollegen bei der längst versprochenen Lösung gegen Retaxe aus formalen Gründen helfe. Davon ist Deutschland meilenweit entfernt.
Nullretaxationen durch GKVen ärgern Apotheker schon seit Jahren. Deshalb hatten Union und SPD mit ihrem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz beschlossen, beide Seiten wieder an den grünen Tisch zu bringen. Diese hehren Ziele sind zumindest kurzfristig gescheitert. Bereits im September hatten der Deutsche Apothekerverband (DAV) und der GKV-Spitzenverband Gespräche abgebrochen. Ihnen war es nicht gelungen, einen Modus vivendi bei der Frage zu finden, unter welchen Voraussetzungen Retaxationen gerechtfertigt sind – und wann nicht. Eigentlich hätten sie noch bis Januar 2016 Zeit gehabt. Der frühzeitige Abbruch legt die Vermutung nahe, dass Positionen beider Seiten so verhärtet sind, dass niemand mehr mit einem Konsens rechnet. Jetzt liegt es an der Schiedsstelle, tragbare Kompromisse auszuhandeln. Über das weitere Vorgehen haben beide Seiten jedoch Stillschweigen vereinbart, um, wie es heißt, den Verhandlungserfolg nicht zu gefährden. Ein ähnliches Desaster gab es bereits 2013 – und zwar in letzter Minute. Eigentlich lagen detaillierte Abmachungen vor, mit denen beide Partner mehr oder minder zufrieden waren. Nachdem das Bundessozialgericht entschieden hatte, Nullretaxationen seien bei Verstößen gegen Rabattverträge prinzipiell zulässig (Az. B 1 KR 5/13R und B 1 KR 49/12R), verweigerten Kassenvertreter ihre Zustimmung und wollten nachverhandeln.
Umso erstaunlicher ist, dass der GKV-Spitzenverband plötzlich selbst auf Ursachenforschung geht. „Mangelnde Aktualität der Verordnungssoftware ist eine wesentliche Ursache für vermeidbare Fehler, die einen Großteil der Retaxierungsvorgänge gegenüber Apotheken ausgelost haben“, heißt es in einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme zum E-Health-Gesetz. Programme würden derzeit nur quartalsweise aktualisiert; zu preis- und Produktinformationen gibt es jedoch Updates in 14-tägigem Turnus. Das kann im schlimmsten Fall zu Zeitverzögerungen von drei Monaten führen. Damit nicht genug: „Aus Erfahrungen zeigt sich, dass die bisher durchgeführten Zertifizierungsverfahren der Praxissoftware bei Weitem nicht ausreichen. Um einen Großteil der Folgeprobleme bei der Patientenversorgung oder Rechnungskürzungen gegenüber den Apotheken aus Schwächen des Zertifizierungsprozesses zu vermeiden, muss nach der Zertifizierung auch die Funktionalität der Software entsprechend den Vorgaben im täglichen Einsatz regelmäßig überprüft werden.“ Bekanntlich zeigen sich Probleme erst außerhalb der Praxis – und Medizinern entstehen keine Nachteile bei formalen Pannen. „Aus diesem Grunde gibt es für die Ärzte kaum einen Anreiz, diese Fehler zu minimieren“, schreibt der GKV-Spitzenverband. Sein Lösungsansatz: „Die Schaffung anlassgerechter Sanktionsmöglichkeiten bei Verwendung einer nicht den Vorgaben entsprechenden Praxisverwaltungssoftware würde die Qualität der Verordnungen im Sinne der Patientenversorgung deutlich fördern.“ Experten schlagen vor, Überwachung und Zertifizierung einer neutralen Instanz zu übertragen.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung sträubt sich gegen regelmäßige Updates – mit überraschenden Argumenten: „Eine 14-tägige Aktualisierung per Datenträger wird derzeit von den Softwareherstellern nach unserer Kenntnis nicht angeboten“, schreiben KBV-Experten. Auch würden neue DVDs alle zwei Wochen zu deutlich mehr Müll führen. Apotheker sind davon mehr als überrascht – sie spielen Updates seit Jahren webbasiert ein; etliche Vorgänge laufen automatisch. Das ist der KBV auch bekannt. Online-Updates erforderten aber „in den Praxen den gleichen hohen personellen Aufwand für manuelles Herunterladen, Kopieren und Einspielen der Dateien“. Jenseits technischer Argumente sei die Begründung, es käme aufgrund fehlender Updates zu Retaxationen, „so nicht belegbar“. Weder den Apothekerverbänden noch den Krankenkassen lägen belastbare Zahlen vor, in welchem Umfang und aus welchen Gründen retaxiert werde. KBV-Vertreter spekulieren vielmehr, dass „die fehlende Zertifizierung von Apothekensoftware und damit die fehlende Verbindlichkeit der dort hinterlegten Funktionen und Informationen zum Rabattaustausch und zu den Vorgaben der Arzneimittel-Richtlinie mit ursächlich für Retaxationen“ sei. Vom Schlagabtausch profitiert letztlich niemand. Bleibt nur, auf das Urteil der Schiedsstelle zu warten.