Das Gebären ohne jegliche Geburtshilfe von Hebamme oder Arzt ist derzeit ein Trend. Im Internet häufen sich Beiträge und Videos von überzeugten Müttern, die nicht mehr „fremdbestimmt“ gebären wollen. Ärzte hingegen warnen: Solche Geburten seien unverantwortlich.
Immer mehr Frauen kritisieren Interventionen wie die künstliche Geburtseinleitung, Dammschnitte oder die allzu rasche Abnabelung. Sie fühlen sich fremdbestimmt. Deswegen häufen sich Berichte über Schwangere, die sich zu einer Alleingeburt entschieden haben. Obwohl diese Art zu gebären unter Experten umstritten ist, findet sich in der Ärzteschaft eine Befürworterin: Sarah Schmid bestärkt Frauen darin, alleine zu gebären. „Nach einer verbesserungswürdigen Hausgeburt habe ich die anderen fünf Kinder in Eigenregie zur Welt gebracht“, schreibt sie auf ihrer Website. „Diese Geburten haben mich begeistert. Ich wünsche mir sehr, dass noch viel mehr Frauen wagen, ihrem eigenen Körper zu vertrauen, Ängste zu hinterfragen und sich freizumachen vom angstgetriebenen heutigen Geburtshilfesystem.“ Ihre Mission: ein „neues weibliches Selbstbewusstsein und eine Gebärkultur jenseits der Arzt- und Angstfixierung“ zu schaffen. Auf ihrer Website sammelt Schmid unterschiedliche Berichte von alleingebärenden Frauen, die ihren Nachwuchs selbstbestimmt und interventionsarm, aber keinesfalls risikoarm auf die Welt bringen. Was sagen Gynäkologen dazu?
Christian Albring © Frauenärzte im Netz / BvF „Die Geburt ist die gefährlichste Stunde im Leben eines Menschen“, warnt Dr. Christian Albring. Er ist Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte. „Wenn nur drei Minuten die Sauerstoffversorgung des Gehirns unterbleibt, resultieren lebenslange Schäden.“ Sein Verband lehnt Niederkünfte außerhalb von Geburtskliniken ab. „Dazu gehören auch Hausgeburten und Geburten in Geburtshäusern ohne frauenärztliche Anwesenheit“, sagt Albring. Alleingeburten ohne Hebamme gingen mit unverantwortlichen Gefahren einher. „Solche Geburten fallen weit hinter den globalen WHO-Standard zurück.“ Auch Professor Dr. Uwe Hasbargen, er leitet dsa Perinatalzentrum und die Geburtshilfe am Universitätsklinikum München-Großhadern, bestätigt: „Es ist gegen die Interessen des Kindes, ohne Not auf die Möglichkeiten medizinischer Hilfe zu verzichten.“ Der Direktor der Geburtsmedizin der Berliner Charité Professor Dr. Wolfgang Henrich hat ebenfalls wenig Verständnis für Alleingebärende. „Noch nie war die Mütter- und Kindersterblichkeit so niedrig wie heute“, betont Henrich. Er verweist auf Gefahren wie akuten Sauerstoffmangel, massive Blutungen oder Fruchtwasserembolien. Außerdem würden nahezu 50 Prozent aller Hausgeburten im Laufe der Niederkunft in eine Klinik verlegt. Gynäkologen bereitet der Trend viel Kopfzerbrechen. https://youtu.be/ymOuEk_pM4g
Genaue Statistiken gibt es hierzulande nicht. Allerdings wächst die Zahl von Erfahrungsberichten, die man online findet, stetig. Die Arzthelferin Jobina Schenk, die sich auf ihrem gleichnamigen Blog „Meisterin der Geburt“ nennt, hat 143 Erfahrungsberichte von Frauen gesammelt, die schon eine Alleingeburt erlebt haben. 114 davon aus Deutschland (Stand 2017). Ihr Ziel ist es, eigenständig Daten zu nicht assistierten Geburten (z.B. Gebärpositionen, Anzahl der Abbrüche von Alleingeburten, Geburtsorte) zusammenzutragen. In ihrer Auswertung für 2017 konstatiert auch sie steigende Zahlen für den Geburtstrend. „Alleingeburten bei Risikoschwangerschaften scheinen in den Niederlanden ebenfalls zuzunehmen“, erklärt Martine Hollander vom Radboud University Medical Centre, Nijmegen, im Gespräch mit dem Autor. Sie beruft sich auf Befragungen verschiedener Fachgesellschaften und Berufsverbände. Sie wollte wissen, welche Erfahrungen Hebammen und Gynäkologen mit schwangeren Frauen gemacht haben, die weniger Betreuung wünschen als in Leitlinien vorgesehen. Deshalb bat Hollander Kollegen, Fragebögen auszufüllen. 900 Vordrucke ließen sich auswerten, was einem Rücklauf von 21,7 Prozent entspricht. Martine Hollander © Radboud University Medical Centre Am häufigsten wurden Tests auf Schwangerschaftsdiabetes abgelehnt (66,3 Prozent). Und trotz bestehenden Risikoschwangerschaften wählten 65,3 Prozent Hausgeburten. 39,6 Prozent entschieden sich für weniger Vorsorgeuntersuchungen als medizinisch empfehlenswert. Dem standen überflüssige Eingriffe gegenüber: Ein Großteil der Befragten berichtete von mindestens einer Anfrage pro Jahr nach einem Wunsch-Kaiserschnitt. Die Expertin sammelte weitere aktuelle Daten: „Unser nächstes Ziel war, die Motivation von Frauen für eine Geburt außerhal b des Systems zu untersuchen, um Medizinern Einblicke und Empfehlungen zu geben.“ Sie führte strukturierte Interviews mit 28 Frauen durch, die sich trotz medizinischer Risiken für eine Alleingeburt entschieden hatten. Ihre Kohorte ist klein, liefert aber Anhaltspunkte für die Praxis. Schwächen bei der Informationsbeschaffung stehen Hollander zufolge bei Entscheidungen an der Spitze: Wenig überraschend sind Online-Medien die wichtigste Quelle für werdende Mütter. Sie lesen Erfahrungsberichte über Alleingeburten, in denen die erfolg reichen Niederkünfte in den rosigsten Farben geschildert werden, während Frauen, die medizinische Probleme hatten, nichts posten.
Wenig überraschend warnen niederländische Gynäkologen ihre Patientinnen häufig vor Alleingeburten. Nur messen viele der Frauen Hollander zufolge den Aussagen ihrer Ärzte nicht genügend Bedeutung bei. Mediziner gelten als Bedenkenträger, als Pessimisten, die natürlich immer das schlimmste Szenario darstellen. Patientinnen bewerten Risiken anders als ihre Ärzte. Das führt bei Geburtsvorbereitungen unweigerlich zu Meinungsverschiedenheiten, sodass Frauen außerhalb etablierter Versorgungsformen nach Alternativen suchen. Ärzten rät die Expertin deshalb:
Schwedische Forscher um Helena E. Lindgren von der Uni Göteborg bestätigen auf Basis eigener Befragungen die angeführten Punkte. Sie bewerten Alleingeburten als „Konflikt zwischen Verantwortung, Macht bzw. Kontrolle einerseits und Unsicherheiten gegenüber dem medizinischen System andererseits“. Das heißt: Mütter befürchten, dass ihnen Hebammen oder Ärzte Entscheidungen aufzwängen. Gebärende wollen selbst entscheiden, ob ein Dammschnitt erforderlich ist oder ob sie mit dem Durchtrennen der Nabelschnur vielleicht noch ein paar Minuten warten.
Dass Frauen in Deutschland auf Geburtshilfe verzichten, lässt sich generell weder mit dem Hebammenmangel, überfüllten Kreißsälen noch mit esoterischem Mumpitz erklären. Werdende Mütter entscheiden sich bewusst für Alleingeburten. Sie lehnen Bevormundungen bei medizinischen Eingriffen ab und suchen ihren eigenen Weg. Das sollte zu denken geben. *Name von der Redaktion geändert