Ab sofort können Ärzte und Psychotherapeuten Apps verordnen. Wir haben uns konkret den Bereich Psychotherapie angeschaut. Ist das gut oder kann das weg?
Am heutigen Dienstag ist eine Liste online gegangen. Darin werden Apps aufgezählt, die Ärzte und Psychotherapeuten nun verschreiben dürfen. Den Segen haben die Apps vom BfArM erhalten. Aktuell sind dort zwei Produkte gelistet, eine App gegen Tinnitus, die andere gegen Panik- oder Angststörungen. Hier gehts zur Liste.
Das Bfarm nennt die Liste DiGa-Verzeichnis, DiGA steht für digitale Gesundheitsanwendungen. Die Liste soll nach Angaben der Behörde bald ergänzt werden. „Aktuell befinden sich 21 Anwendungen beim BfArM in der Prüfung“, heißt es in einer Pressemitteilung. „Für weitere rund 75 Anwendungen hat das Innovationsbüro des BfArM bereits Beratungsgespräche mit den Herstellern geführt, sodass kurzfristig weitere Anwendungen in die Prüfung und ins Verzeichnis kommen werden.“
Wie das aussehen kann, wenn eine App zum Einsatz kommt, davon haben womöglich nicht alle Menschen eine konkrete Vorstellung.
Eines von vielen Beispielen ist die App Selfapy. Sie soll etwa die Versorgungslücke in der Psychotherapie schließen. Da die Wartelisten bei Psychotherapeuten lang sind, hat ein Berliner Start-up die App entwickelt, über die man Online-Kurse buchen kann. Diese basieren auf einer Verhaltenstherapie und sind für Patienten konzipiert, die an einer Depression, Angst-, Essstörung oder einem Burnout erkrankt sind.
Es besteht die Möglichkeit, einen Psychotherapeuten dazuzubuchen, mit dem man Sitzungen per Videochat durchführt. Dieser Service kostet zwischen 150 und 300 Euro im Monat. Bisher haben sich 17 Krankenkassen dazu entschieden, mit dem Unternehmen zu kooperieren.
Auch andere glauben an dieses Modell: Selfapy erhielt bereits sechs Millionen Euro von Investoren. Im nächsten Schritt will es das Unternehmen schaffen, von Krankenkassen als erstattungsfähig eingestuft zu werden. Wie aber denken Psychotherapeuten über App-Angebote wie diese?
DocCheck hat Sabine Maur gefragt. Sie ist Präsidentin der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz. Sie sagt: „Nach einer Umfrage unter Kammermitgliedern waren wir positiv überrascht, dass sich zwei Drittel der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vorstellen können, mit digitalen Interventionen zu arbeiten.“
Sabine Maur © Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz„Eine weitere Rückmeldung zeigte jedoch Unsicherheit – bezüglich des Datenschutzes, der Technik, der Haftung und der generellen Anwendung, wenn man Apps verschreiben darf“, sagt Maur.
Denn wie die Psychotherapeutin betont, müsse man bei Apps verschiedene Szenarien unterscheiden. „Gefühlstagebücher oder Schmerzprotokolle gab es schon in der analogen Welt in Papierform; digital ist die Protokollierung aber einfach besser, weil Patienten nicht nur Zettel kurz vor der Therapie ausfüllen.“ Dies führe letztlich zu besseren und zuverlässigeren Daten. Solche Apps seien bei gutem Datenschutz vom Risiko her als eher unkritisch zu betrachten.
Mit deutlich mehr Risiken sind beispielsweise Apps zur Behandlung von Depressionen oder zum Monitoring bipolarer Störungen verbunden. Dazu zählt zum Beispiel Anymis. Die App wertet Daten aus, die jedes Smartphone ohnehin aufzeichnet, nämlich die Zahl an Telefonaten oder Kurznachrichten sowie das Bewegungsprofil, um soziale Aktivität zu ermitteln.
„Dann gibt die App relativ früh Hinweise auf Zustandsänderungen in die depressive oder manische Richtung, und zwar früher, als ein Patient dies wahrnimmt.“ Maur spricht von Chancen, weil hier etwa Zwangseinweisungen aufgrund manischer Episoden in manchen Fällen verhindert werden könnten: „Davon haben Patienten einen richtig großen Vorteil.“ Natürlich müsse die Technik verlässlich funktionieren.
Eine andere App widmet sich dem Thema Angststörungen. Millionen Menschen leiden darunter, vielen fehlt die Möglichkeit einer Therapie. Das Startup Sympatient zeigt einen neuen Weg aus der Krankheit und setzt dabei auf virtuelle Realitäten – VR. Das Verfahren ist im Prinzip ganz einfach. Der Patient setzt sich eine VR-Brille auf und bekommt über eine App Szenen vorgespielt, die ihn mehr und mehr in eine ihm bedrohlich erscheinende Lage versetzen. Genaueres erfahrt ihr im Video.
Potenziale für Apps generell sieht die Psychotherapeutin Maur auch bei Patienten, deren Beschwerden noch keine Indikation für eine Psychotherapie darstellen. Ihnen könnte man Apps zum Stressmanagement, zur Entspannung oder zur Achtsamkeit empfehlen – und außerdem einen Kontrolltermin nach sechs Wochen vereinbaren. Vielleicht hat sich die Symptomatik bis dahin verbessert, vielleicht aber auch nicht. Dann ist die Zeit möglicherweise reif für eine Psychotherapie.
„Wir sind natürlich nicht begeistert, wenn die Gesundheitspolitik versucht, Fragen der Bedarfsplanung über Apps zu lösen, sprich Wartezeiten zu überbrücken“, stellt Maur klar. Krankenkassen hätten dies anfangs versucht, aber Lehrgeld gezahlt: Die Inanspruchnahme ist weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. „Wir wissen heute nämlich, dass Apps vor allem dann gut funktionieren, wenn sie therapeutisch geleitet werden bzw. wenn sie eine persönliche Therapie begleiten und unterstützen.“
Ein grundlegendes Problem bei allen Apps: „Es gibt außergewöhnlich viel Forschung zu digitalen Interventionen in der Psychotherapie, doch viele Studien sind nicht anwendungsbezogen“, sagt Maur. Trotzdem sehe man „viele positive Effekte“ und dürfe deshalb Apps Patienten in der psychotherapeutischen Versorgung nicht vorenthalten.
Forderungen, alle Apps über randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) zu bewerten, relativiert die Expertin. „Ich brauche bei einem Schmerztagebuch keine aufwändige Studie. Wenn Entwickler aber behaupten, ihre App könne Depressionen behandeln, sind methodisch hochwertige Daten erforderlich.“
Die Dimension der Verantwortung ist hier im Bereich Depression deutlich höher. Es gehe um wesentliche Fragen, die man auf dem Schirm haben müsse. Zum Beispiel: Wie funktioniert eine App in Notfallsituationen wie Suizidalität? Oder: Wer sitzt am Ende einer Hotline? „Da reichen Psychologie-Studierende nicht aus“, wie Maur betont.
Für die Praxis wünscht sich Maur einen gewissen Pragmatismus. Man könne „nicht auf Ergebnisse aus fünf Doktorarbeiten“ warten. „Hohe Maßstäbe sind wichtig. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Patienten im Zweifelsfall mit den Füßen abstimmen.“
Ihr Fazit: „Spahn hat beim Thema Digitalisierung ein hohes Tempo an den Tag gelegt. In Deutschland fehlt aber eine umfassende Digitalstrategie. Dazu gehört nicht nur Technik. Patienten und Heilberufler brauchen gleichermaßen mehr Digitalkompetenz.“
Dieses Thema beschäftigt auch die Gründer von Sympatient mit ihrer App gegen Angststörungen. Sie erzählen, wo's in Deutschland noch hakt und was so los ist auf dem DTx-Markt - dem Markt für digitale Therapien.
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