Der dreijährige Alessio, die 18-monatige Emily und die zweijährige Zoe sind gestorben – durch Gewalt im Elternhaus. Während Bekannte oder Nachbarn oft wegsehen, sollten Pädiater eingreifen. Doch das ist leichter gesagt als getan.
Im letzten Jahr wurden bundesweit 108 Kinder getötet und 4.204 misshandelt, heißt es in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik. Wie hoch die Dunkelziffer tatsächlich ist, wagt niemand zu schätzen. Pädiatern kommt eine besondere Verantwortung zu. Ihr Dilemma: Sind bestimmte Verletzungen tatsächlich – wie von Eltern behauptet – auf einen Unfall zurückzuführen? Oder handelt es sich vielmehr um Anzeichen häuslicher Gewalt?
Daniel M. Lindberg und Desmond K. Runyan aus Denver, Colorado, zeigen Kollegen, worauf sie achten sollten. Basis ihrer Studie waren Daten aus 18 US-amerikanischen Klinken. Insgesamt wurden 4,1 Millionen Kinder behandelt. Bei 30.355 Patienten unter 24 Monaten fanden sie sogenannte „sentinel injuries“, also „Wächter-Verletzungen“, die auf häusliche Gewalt hindeuten können. Im Alter von weniger als sechs Monaten waren nasopharyngeale Verletzungen in 17 Prozent aller Fälle Zeichen einer Misshandlung, während Verbrennungen (3,5 Prozent) oder Prellungen (8,3 Prozent) seltener damit in Verbindung standen. Deutlicher wird die Assoziation bei Kindern unter zwölf Monaten. Hier gelten intrakranielle Blutungen (Misshandlungsquote 26,3 Prozent), Radius-, Ulna-, Tibia- oder Fibula-Frakturen (18,9 Prozent) sowie Femur- und Humerus-Frakturen (18,9 Prozent) als auffällig. Hatten Kinder isolierte Schädelfrakturen, war dies lediglich in 4,3 Prozent aller Fälle auf Gewalt durch Dritte zurückzuführen. Lindberg und Runyan zeigten auch, welche Verletzungen bei Kindern unter 24 Monaten Hinweise geben können. Hier gelten Rippenbrüche als besonders aussagekräftig im negativen Sinne (56,1 Prozent), gefolgt von Abdominaltraumata (24,5 Prozent), Verletzungen der Genitalien (12,3 Prozent) und subkonjunktivalen Blutungen (8,6 Prozent).
Diagnostizieren Ärzte „Sentinel-Verletzungen“, sollten sie hellhörig werden und weitere Untersuchungen durchführen. Innerhalb aller Kliniken mit Beteiligung an der Studie schwankte die Bereitschaft stark – abhängig vom Verletzungsmuster, aber auch vom Arzt. Grund genug für die Autoren, im Zweifelsfall einen Röntgen-Skelett-Status zu fordern. Als weitere Verdachtsmomente gelten Dr. Bernd Herrmann zufolge [Paywall] wenig plausible Erklärungen der Erziehungsberechtigten, ein häufiger Arztwechsel, Spuren älterer Verletzungen und verspätete Praxisbesuche trotz schwerwiegender Leiden. Doch was sollten Kollegen unternehmen, falls sich Fakten nicht mehr leugnen lassen?
Bei Verdacht auf Vernachlässigung oder Misshandlung können Berufsgruppen mit Schweigepflicht laut Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG), Paragraph 4, Jugendämter einschalten. Im stationären Bereich fungieren Kinderschutzgruppen als Schnittstelle zwischen Ärzten und Behörden. „Jede Kinderklinik soll ein strukturiertes und verbindliches Interventionskonzept vorweisen, das die lokalen Gegebenheiten berücksichtigt, und von den Leitern aller beteiligten kindermedizinischen Abteilungen und der Geschäftsführung getragen werden soll“, empfehlen die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DAKJ) und die Arbeitsgemeinschaft Kinderschutz in der Medizin (AG KiM). Interdisziplinäre Teams mit Kollegen aus der Allgemein-, Sozial- oder Neuropädiatrie, der Kinderchirurgie, der Kinder-/Jugendpsychiatrie, der Kinder- und Jugendpsychotherapie, des Sozialdienstes und der Pflege beraten verantwortliche Oberärzte. Rechtsmedizin, Gynäkologie und Radiologie kommen gegebenenfalls mit hinzu. Gemeinsam versuchen sie, Gewalt zu verhindern, Spuren zu sichern, das weitere Vorgehen zu planen und Familien zu beraten.
Von drastischeren Maßnahmen raten beide Fachgesellschaften jedoch ab: „Strafanzeige sollte nur in wohlüberlegten Einzelfällen erfolgen.“ Ihre Begründung: „Das Strafrecht fokussiert auf die Bestrafung des Täters und nicht primär auf den Schutz des Opfers. Die Strafanzeige befriedigt die Rechtsbedürfnisse der Gesellschaft und verfolgt somit andere Ziele als der Kinderschutz.“ Standesorganisationen schränken sich weniger ein. „Aufgrund der Garantenpflicht gegenüber dem Kind ist der Arzt bei ausreichend konkreten Hinweisen, die den Verdacht einer Misshandlung des Kindes rechtfertigen, sogar verpflichtet die Polizei oder das Jugendamt zu informieren, um mögliche künftige Misshandlungen zu verhindern“, schreibt die Ärztekammer Berlin in einem Merkblatt. Brechen Ärzte ihre Schweigepflicht, handelt es sich immer um tiefgreifende Einzelfallentscheidungen. Das Strafgesetzbuch (StGB) ebnet einen Weg über den „rechtfertigenden Notstand", sollten Gefahren für Leib und Leben drohen. Eine Verpflichtung zur Anzeige entsprechend Paragraph 138 StGB besteht aber nicht. Gleichzeitig können sich Kollegen laut Strafprozessordnung (StPO), Paragraph § 53, auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen.
Bleibt als Haken, dass Jugendämter mancherorts ihrer Arbeit kaum noch nachkommen. Ein Beispiel: Angestellte aus Berlin verfassten in 2014 etliche Überlastungsanzeigen und hissten auch in 2015 bildlich die weiße Fahne. Bleibt als politische Forderung von Ärzten, einen Kinderbeauftragten im Bundestag zu verankern. Das kann noch dauern.