Deutschland kann Patienten kaum noch versorgen. Lieferengpässe stehen an der Tagesordnung – sowohl bei Generika als auch bei Originalpräparaten. Durch das Coronavirus spitzt sich die Lage weiter zu.
Der Faktor Coronavirus hat womöglich Einfluss auf ein Problem, das ohnehin schon groß genug ist: Lieferengpässe. „In dieser Woche schränkten die Behörden auch die Bewegungsfreiheit von Millionen Menschen in der Provinz Zhejiang massiv ein. Und von dort stammen tatsächlich viele Arzneimittel, die weltweit verkauft werden“, wie ein NDR-Korrespondent der Tagesschau schreibt. Bereits bestehende Lieferengpässe könnten sich zusätzlich verschärfen, warnen Experten. Die Situation ist jedoch unklar, denn chinesische Hersteller geben auf Anfrage nur sehr eingeschränkt Auskunft.
Doch der Missstand besteht bereits längerem. Kein Shingrix®, kein Venlafaxin, kein Candesartan, kein Cotrimoxazol, kein Gardasil®, kein Enalapril: Wichtige Arzneistoffe und Vakzine sind in Deutschland mal wieder Mangelware. Rund 260 Pharmaka nennt das freiwillige, am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte geführte Register derzeit. Mehrere Dutzend Impfstoffe sind auch betroffen. Die Pillen-Planwirtschaft hat ihren Höhepunkt erreicht. Was bringen evidenzbasierte Therapien, wenn die Pharmaka nicht verfügbar sind? Dahinter steckt der krankhafte Wunsch, Geld zu sparen – unabhängig vom Sinn und Zweck. Eine Spurensuche.
Das Desaster begann vor mehr als 17 Jahren. Dank des Beitragssatzsicherungsgesetzes (BSSichG) durften GKVen mit einem oder mehreren Arzneimittelherstellern Verträge abschließen – über einzelne Wirkstoffe, einzelne N-Größen oder über das gesamte Sortiment bei generischen Präparaten. Die Größenordnung liegt derzeit bei 4,4 Milliarden Euro pro Jahr – und das bei Finanzreserven von rund 21 Milliarden Euro. Man darf nicht vergessen: Im gesamten Gesundheitswesen belaufen sich die Arzneimittelausgaben auf etwa 16 %.Grafik: Pharma-Fakten
Damit wurden GKVen per definitionem zur Instanz der Planwirtschaft. Sie entschieden – und entscheiden – über die Verteilung von Ressourcen, sprich der Ausgaben für Arzneimittel, obwohl dies nicht erforderlich wäre. Und sie haben mit ihren Rabattverträgen Pandoras Büchse geöffnet. Versorgungsauftrag? Fehlanzeige!
Die pharmazeutische Industrie leckte ab 2003 jedenfalls Blut. Sie gewährte GKVen großzügige Rabatte, um an dicke Aufträge zu kommen. Doch bei Firmen waren die Augen wohl größer als der Mund. Mit jeder neuen Ausschreibung setzen GKVen pharmazeutische Hersteller stärker unter Druck. Rabattverträge waren schließlich mehr als ein Erfolgsmodell. Und die Arzneimittelpreise sanken, gemessen am allgemeinen Verbraucherpreisindex. Was tun?
Um Kosten zu sparen, haben Hersteller ihre Produktionsstandorte nach Indien oder China verlagern. Niedrige Lohnkosten, aber auch niedrige Sozial- und Umweltstandards spielen eine Rolle. Recherchen der ARD zeigen, dass Wirkstoffe und Hilfsstoffe für unterschiedliche Firmen teilweise im gleichen Werk entstehen.
Im Beipackzettel wird nur ein Unternehmer genannt, bei dem der letzte Schritt stattfindet, und der ist eben in Deutschland. Patienten bekommen davon erst etwas mit, falls ein Lohnhersteller in die Luft fliegt – oder von Behörden geschlossen wird. Plötzlich ist der Markt leergefegt, denn das Werk hat etliche Firmen in Europa und Amerika mit Wirkstoffen versorgt. Dumm gelaufen. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, der Vorgänger von Jens Spahn, wollte mit seinem Pharmadialog Deutschland als Standort attraktiver machen. Geändert hat sich aber nichts – die Macht gesetzlicher Krankenkassen ist ungebrochen. Und an Rabattverträgen rüttelt niemand ernsthaft.
Auf Rabattverträge und Lieferengpässen angesprochen, reagieren GKVen mit umfassendem Zahlenmaterial, streiten die Vorwürfe aber ab. So hat die AOK Eckpunkte in einem Dossier zusammengestellt. Mit Zahlen lässt sich immer gut jonglieren. Einer Meldung zufolge seien Anfang September 2019 mehr als 99 Prozent der Arzneimittel lieferbar gewesen. Das klingt doch beeindruckend, bedeutet absolut jedoch 461 Pharmaka. Und das ist eine Versorgungslücke.
Auch die Forschung wird bemüht. „Arzneimittelrabattverträge erhöhen die Versorgungssicherheit, stärken den Wettbewerb unter den Pharmafirmen und senken die Arzneimittelkosten“, erklärt Helmut Schröder vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO). „Dennoch scheint das Gerücht von umfangreichen Lieferengpässen bei Arzneimitteln in Deutschland und von den dafür verantwortlichen Rabattverträgen durch ständiges Wiederholen die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Fakten erzählen jedoch eine andere Geschichte.“
Die AOK fasst aus ihrer Sicht mögliche Erklärungen für Lieferengpässe in einer Infografik zusammen – und benennt die Industrie ganz klar als Schuldige. Technische Probleme, Rohstoff-Engpässe, Qualitätsdefizite oder intransparente Lieferketten sollen Lieferengpässe sein. Auch medizinischer Mehrbedarf wird genannt. Rabattverträge kommen mit keinem Sterbenswörtchen vor. Und warum sich Hersteller gezwungen sehen, in Zeiten der Pillen-Planwirtschaft billige Zulieferer heranzuziehen, bleibt unerwähnt.
Versorgungslücken haben noch eine weitere Ursache, nämlich staatliche Regelungen. Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, kurz AMNOG, mit seinen Nutzenbewertungen, hat zur Verschiebung des europäischen Preisgefälles bei innovativen, patentgeschützten Präparaten geführt. Rund zwei Drittel der deutschen Erstattungsbeträge liegen unterhalb des durchschnittlichen Preises in europäischen Vergleichsländern. Für Parallelhändler lohnt es sich, solche Präparate bei uns aufzukaufen und in anderen EU-Staaten teuer zu verkaufen. Damit fehlen plötzlich auch Originalpräparate und nicht nur Generika.
Nun sind die Probleme seit Jahren bekannt. Was tun wir Deutschen? Wir regulieren. Forderungen nach einem verpflichtenden Register oder nach Mindestmengen werden laut, wie derzeit in Berlin. Und Apotheker sollen leichter als bisher Pharmaka bei Lieferengpässen austauschen. Das löst keine Probleme, das stärkt nur die Pillen-Planwirtschaft. Die Zeit für eine sinnvolle Strategie, nicht nur für Kosmetik, wäre mehr als reif.
Momentan läuft viel verkehrt: Bei gut erforschten generischen Wirkstoffen drücken wir die Preise. Wir sind aber bereit, Unsummen für schlecht untersuchte Pharmaka auszugeben, nämlich neue Wirkstoffe im ersten Jahr laut AMNOG. Das ist auch Herstellern klar; sie kalkulieren bewusst mit diesen Modell.
Was tun? Generika müssen unter besseren Produktionsbedingungen für Firmen wieder lukrativ werden. Und bei innovativen Originalpräparaten brauchen wir Maßnahmen gegen Mondpreise. Deutschland ist allein zu schwach, um „Big Pharma“ die Stirn zu bieten - und kann auch kaum zum attraktiven Produktionsstandort werden. Dafür sind wir zu klein. Doch eine europäische Institution wie die EMA könnte Kräfte bündeln und Erfolge erzielen.
Deutschland hätte dagegen ganz andere Aufgaben: Wofür brauchen wir 109 gesetzliche Krankenkassen (Stand 2019) mit ähnlichen Leistungen?
Bildquelle: Jude Beck, Unsplash