Wenige Sätze habe ich nach einer Fortbildungsveranstaltung derart im Gedächtnis behalten wie diesen. Stimmt das wirklich? Ein kritischer Blick auf Probiotika.
Wenige Sätze haben sich so in meinem Gedächtnis manifestiert wie der von Frau Margit Schlenk. Sie ist Fachapothekerin für Offizinpharmazie, Autorin, Fachreferentin und wissenschaftlicher Beirat im WIPIG (Wissenschaftliches Institut für Prävention im Gesundheitswesen). Und sie bezeichnet es als Körperverletzung, nach einer Antibiotikagabe keinen Darmaufbau zu empfehlen.
Doch ist das wirklich so? Und wenn ja, warum? Was gibt die Studienlage her, wie ist die Evidenz? Ist der ganze Mikrobiom-Hype in den Apotheken am Ende nur ein durch die Industrie künstlich erzeugtes Must-have, um ihren Absatz zu vergrößern? Was auf diesem großen und heiß umkämpften Markt kann man guten Gewissens empfehlen, was bleibt besser im Regal? Diese Fragen beschäftigt das Apothekenpersonal seit einigen Jahren.
Zum Verständnis sei gesagt, das ist kein Artikel der mit „Am Anfang war das menschliche Mikrobiom“ beginnen soll. Dass es die Gesamtheit der im Körper angesiedelten Bakterien und Pilze umfasst, der etwa 39 Billionen Mikroorganismen eine Heimat bietet, setze ich als vorhandenes Vorwissen der geschätzten Leserschaft einfach einmal voraus. Auch, dass es eine schützende Barrierefunktion gegen Krankheitsauslöser bildet und ein Teil des Stoffwechselsystems ist, das beispielsweise kurzkettige Fettsäuren, die Vitamine B1, B2, B6, B12 und Vitamin K bildet, ist keine neue Erkenntnis. Es stabilisiert das Immunsystem, dient der Energiebeschaffung, unterstützt die Verdauung und ist in seiner Gesamtheit noch bei weitem nicht komplett untersucht und verstanden.
Interessant ist es in jedem Fall, dass das individuelle Mikrobiom Studien zufolge unter anderem einen Einfluss auf Diabetes, das Auftreten eines metabolischen Syndroms, Depressionen, Stresserkrankungen oder Fettleibigkeit hat.
Durch die Presse bekannt wurde ein Fall, bei dem eine normalgewichtige Frau eine Stuhltransplantation (FMT) ihrer fettleibigen Tochter erhielt, um ihre therapieresistente Clostridienenteritis los zu werden. „Nach FMT kam es jedoch trotz Diätversuchen, Fitnessprogramm und ärztlicher Konsultationen zu einer rapiden Gewichtszunahme. Sie hatte schließlich nach 18 Monaten mit einer Gewichtszunahme von 18 kg einen BMI von 33 erreicht. […]. Es ist somit noch lange nicht klar, ‚was’ da alles ‚mit’-transplantiert wird, welche Informationen, quasi als ‚Trittbrettfahrer’, im hilfesuchenden Patienten landen“ schreibt Rainer Schmidt in seinem Buch Allergie und Mikrobiota.
Unstrittig ist ebenfalls, dass eine Antibiotikagabe das Mikrobiom negativ beeinflusst. Verschiedene Studien zeigen, dass bereits eine Antibiotikagabe über 7 Tage die mikrobielle Diversität im menschlichen Körper verringert, und resistente Stämme selektiert. Um diese Diversität aus eigener Kraft wieder herzustellen, benötigt das Individuum bis zu zwei Jahre. Clindamycin scheint hier außerdem stärkere Auswirkungen auf das Mikrobiom zu haben als Ciprofloxacin. Der Vielfalt des Mikrobioms kommt eine große Bedeutung zu, denn sie scheint direkte Auswirkungen auf die Gesundheit zu haben, wie Untersuchungen an Mäusen nahe legen. Je vielfältiger, desto gesünder ist hier die Devise.
Auch die S1-Leitlinie „Akuter Durchfall“ der DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin) empfiehlt bei Durchfallerkrankungen eine Behandlung mit Probiotika.
Mit der Beantwortung dieser Frage tut sich auch die Leitlinie schwer, denn: „eine eindeutige Empfehlung (wird) durch die hohe Diversität der verschiedenen eingesetzten Bakterien-Stämme und Inhomogenität der Studien (erschwert).“ Auch eine Cochrane-Review empfiehlt grundsätzlich die Anwendung von Probiotika bei Durchfällen, da sie sicher zu sein scheinen und die Krankheitsdauer verkürzen können – merkt aber an, dass weitere Untersuchungen erforderlich sind, um die Anwendung bestimmter probiotischer Therapien für bestimmte Patientengruppen festzulegen. Somit gilt für die Empfehlung im Rahmen einer Prävention eher ein „Kann“, nicht ein „Soll“.
Eine Metaanalyse nennt immerhin drei verschiedene Möglichkeiten, die bei Antibiotika-assoziierter Diarrhö (AAD) helfen können, beim Namen, nämlich die beiden am besten untersuchten Keime Saccharomyces boulardii und Lactobacillus rhamnosus GG, sowie Mischungen verschiedener Probiotika. Ergänzend nennt eine weitere aktuelle Metaanalyse die gegen AAD wirksamen Mischungen genauer: Es handelt sich um Lactobacillus acidophilus CL1285, Lactobacillus casei LBC80R, Lactobacillus rhamnosus CLR2 und Lactobacillus reuteri 55730. Andere untersuchte Lactobacillus-Stämme zeigten in dieser Analyse keine signifikante Wirkung.
Auch hier wird die Wirkung von Saccharomyces boulardii und Lactobacillus rhamnosus GG besonders hervorgehoben. Dabei sind besonders hoch dosierte Präparate mit über 5 Milliarden koloniebildenden Einheiten pro Tag vorzuziehen, da sie eine besonders große Evidenz zur Prävention und Behandlung der AAD vorweisen können, wie es in einer Cochrane-Review heißt. Doch auch hier fehlt laut der Autoren noch eine große, gut konzipierte, multizentrische und randomisierte Studie.
Zu diesem Fazit gelangte auch eine weitere Review aus dem Jahr 2017, die aber trotzdem die Einnahme hoch dosierter Probiotika zur Prävention von Clostridium difficile-assoziiertem Durchfall bei Erwachsenen und Kindern empfiehlt.
Natürlich gibt es kein Licht ohne Schatten – und der heißt hier Immunsuppression. Patienten, die schwer krank und/oder immunsupprimiert sind, dürfen nicht mit Saccharomyces boulardii behandelt werden, um eine Fungiämie auszuschließen. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang an den Rote-Hand-Brief aus dem Jahr 2018.
Also sollten Probiotika beispielsweise für einen Patienten mit Zentralvenenkatheter genauso von der Empfehlung ausgenommen werden, ebenso für Menschen, die aktuell eine Chemotherapie erhalten.
Pankreatitis ist ebenfalls ein Ausschlusskriterium, da die Sterblichkeit der behandelten Personen ansteigen kann. Einige Experten sehen die Einnahme außerdem bei einer gestörten Darmbarriere als kritisch an.
Es ist sicherlich sinnvoll und wichtig, Patienten, die mit Antibiotika wie Ampicillin, Amoxicillin, Chinolon, Clarithromycin, Clindamycin, Cefalosporin (v. a. der dritten Generation) oder Erythromycin behandelt werden, über die Risiken einer AAD aufzuklären. Bei der Einnahme dieser Wirkstoffe tritt eine AAD besonders häufig auf. Risikopatienten (AAD in der Anamnese, Kleinkinder, alte Menschen) können von einer Prävention durch Probiotika ebenfalls in höherem Maße profitieren.
Ist die AAD bereits aufgetreten, so ist die Zusatzempfehlung eines probiotischen Präparates neben der First-line-Therapie mit einer oralen Rehydratationslösung sinnvoll. Es sollte, um Wirkung zu zeigen, dabei mindestens 5 Milliarden (besser mehr) koloniebildende Einheiten pro Tag vorweisen können und verschiedene Stämme – darunter die genannten Lactobacillus-Stämme, Saccharomyces boulardii und/oder Lactobacillus rhamnosus GG – enthalten.
Die Einnahme kann bereits während der Therapie mit dem Antibiotikum begonnen werden, sollte aber in zeitlichem Abstand von etwa einer Stunde erfolgen. Nach der Beendigung der Antibiotika-Einnahme sollten die Probiotika noch mindestens eine bis zwei Wochen weiter eingenommen werden.
Kinder, ältere Menschen und Patienten mit Fieber, Schmerzen im Oberbauch, Krämpfen, extrem starkem Flüssigkeitsverlust, schleimig-blutigen Durchfällen oder einem Wechsel zwischen Durchfall und Verstopfung sollten zur weiteren Behandlung zum Arzt geschickt werden. Hier sind die Grenzen der Selbstmedikation erreicht.
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