Es ist Freitagnachmittag. Die Sprechstunde ist fast geschafft und ich setze mich auf den Stuhl an der Anmeldung, packe mir genüsslich eine Praline aus und bin der festen Überzeugung, dass nun nichts mehr passieren kann.
Was. Für. Ein. Fataler. Fehler. Wie so ein Anfänger. Dabei weiß doch jeder, der in der Medizin beruflich tätig ist, dass es für diese Situationen ein ungeschriebenes Gesetz gibt.
Das Gesetz lautet: Sprich nie, ich wiederhole, nie aus, dass nun kein Patient mehr kommt. Dass es heute ruhig ist. Dass gerade aber echt nichts los ist. Dass es ganz schön langweilig heute ist. Dass doch um Himmels Willen bitte ein wenig Arbeit kommen möge.
„Ruhig“ gibt es nicht. Dieses „Ruhig“ in der Medizin ist die Ruhe vor der Sturm. Das Aufatmen, bevor der Andrang los geht. Andächtige Stille, bevor das Chaos losbricht. Wenn es ruhig ist, kann man Briefe abarbeiten, ausführliche Visiten machen, Fälle besprechen oder – haha, wie absurd eigentlich – mal Mittagessen gehen, Kaffee trinken und auf die Toilette gehen.
Wenn man nun die verbotene Worte ausspricht, hat man den Zauber der Ruhe zerstört. Die Folgen sind fatal.
Im hausärztlichen Bereich sammeln sich alle Patienten des Dorfes vor der Praxis, um die letzten zehn Minuten der Sprechstunde noch eben mal schnell zu nutzen, um ein Rezept zu holen, eine Überweisung drucken zu lassen oder eben vor dem Wochenende noch mal schnell mit dem Arzt zu sprechen.
Ein beinahe unumstößlicher Fakt ist es auch, dass am Freitagmittag in der Praxis eine Thrombose, ein Herzinfarkt oder eine sonstige im Krankenhaus zu behandelnde Erkrankungen eintrudelt, sodass man erst einmal Diagnostik betreiben, dann die Klinik informieren und schließlich den Rettungsdienst rufen muss. Der natürlich vollkommen überlastet ist, weil man kurz zuvor ausgesprochen hat, was man nicht sagen darf.
Im Krankenhaus bedeutet der ausgesprochene Satz „Heute ist es ja mal ruhig“, dass durch die unheimliche, ehrfürchtig und ängstlich ertragene Stille des ausnahmsweise ruhigen Tages, ein deutlich hörbares Aufstöhnen durch alle Flure wabert und der gesamte Personalstand sich geschlossen mit der flachen Hand gegen die Stirn klatscht. Oder Kopf-Tisch-Geräusche durch die Flure hallen. Vorbei ist es mit dem leisen Hauch der Hoffnung, an diesem Tag eventuell einmal durchatmen zu können.
Denn sobald es ausgesprochen ist, scheinen sich die Mitarbeiter im benachbarten Pflegeheim die Hände zu reiben: „Ha! Es ist ruhig da drüben! Lass mal einweisen!“
Und dann werden die älteren Herrschaften dieser Welt in Reisebusse gepackt und vor der Notaufnahme ausgeschüttet. Auch auf Intensivstationen spürt man die Folgen des fatalen Satzes. Es streiken akut die Beatmungsgeräte und die freien Betten fahren ihre Greifarme in Richtung OP-Saal aus, um dem Operateur das Skalpell aus der Hand rutschen zu lassen und um die große Bauchoperation nach Whipple einzukassieren.
Deswegen bleibe ich einfach hier auf meinem Stuhl sitzen, esse meine Praline und freue mich ganz still und in Ruhe über den bevorstehenden Feierabend. Da bewegt sich die Türklinke und die Tür öffnet sich.
Es war mein Fehler. Ich hätte die Tür nicht ansehen dürfen.
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