Mich ärgert die Entwertung der medizinischen Profession durch ihre zunehmende Ökonomisierung. Mir ist durchaus klar, dass Geschäftsführer und Ärzte unterschiedliche Interessen haben. Aber worauf steuern wir zu?
Der Paul-Ehrlich-Hörsaal der Charité am Standort Mitte ist um kurz vor 18 Uhr gut gefüllt. Der Arbeitskreis „Ökonomisierung im Gesundheitswesen“ hat geladen. Der Titel der Veranstaltung: „Die Ökonomisierung der Krankenhäuser – Rendite, Schwarze Null oder Daseinsvorsorge?“
Privatdozent Tobias Hofmann, leitender Oberarzt der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik der Charité und einer der Initiatoren des Arbeitskreises, wird mir später erläutern, dass die bevorstehende Einführung des Pauschalierten Entgeltsystems in Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) für diese Fächer einen ähnlichen Wandel bedeute wie die DRG (Diagnosis Related Group) für die somatischen Disziplinen in 2004. Deshalb habe man durch intensive Beschäftigung mit der Materie von vornherein Fehlentwicklungen entgegenwirken wollen.
Mein Impuls für den Besuch der Veranstaltung war natürlich das Bedürfnis nach einem Abgleich meines immer wieder aufwallenden eigenen Ärgers über die Entwertung der medizinischen Profession durch ihre zunehmende Ökonomisierung mit differenzierten Fakten. Ein wenig natürlich auch der Wunsch nach Bestätigung des subjektiv Empfundenen. Allerdings ist die Frage nach der Veränderung nicht einfach zu beantworten, wie sich noch zeigen wird. Dennoch gibt es kleine Verschiebungen mit beträchtlicher Hebelwirkung.
In meiner Facharztausbildung Mitte bis Ende der 90er Jahre ging es in der Tat z.B. darum, mit möglichst wenig diagnostischem Aufwand zum Ziel einer Diagnose und Therapie zu gelangen oder auch einmal einfach gar nichts zu tun, sondern zuzuwarten. Die Frage unseres Chefs lautete schlicht: Hat die Untersuchung für das weitere Vorgehen relevante Konsequenzen? Das sind in meinen Augen Definitionsmerkmale professioneller und hochwertiger Medizin.
Mittlerweile scheint es zumindest so, als sei der wesentliche Impuls nicht mehr das Streben nach einer Optimierung des medizinischen Prozesses per se, sondern eine ökonomische Steuerung. Konkret: Es ist nicht mehr aus intrinsisch medizinischer Abwägung erstrebenswert, möglichst wenig kranielle MRT durchzuführen, sondern der begrenzende Faktor sind zu hohe Kosten (Zitat: „das Medizincontrolling hat angemahnt, dass wir zuviel Schnittbildgebung durchführen“). Das bedeutet nicht, dass ökonomische Erwägungen in der Medizin nichts zu suchen hätten. Sie sollten aber nicht den Grundton für die medizinisch Handelnden setzen.
Wie man im Übrigen am Beispiel der MRT sehr gut erkennen kann, führen beide Handlungsmaximen interessanterweise gleichermaßen zur Mengenbegrenzung und einem effizienten Umgang mit finanziellen Ressourcen. Der Vorteil der ersteren besteht allerdings darin, dass der Arzt subjektiv mehr Kontrolle über den Prozess und ein damit einhergehendes höheres Identifikationsempfinden hat. Das Beispiel zeigt sehr prägnant, dass medizinische und ökonomische Interessen sogar miteinander in Einklang gebracht werden können.
Auf der Veranstaltung, die ich besuche, sollen unter anderem die Ursachen zunehmender Ökonomisierung beleuchtet werden. Den ersten Vortrag mit dem Titel „Das Innenleben des Krankenhauses“ hält Dr. Bernhard Braun, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler.
Er präsentiert sehr konkrete Zahlen und zieht sehr schnell den Zahn, die aktuellen Probleme einer zunehmenden Ökonomisierung monokausal der Einführung der DRG anzulasten. Vielmehr sei es so, dass die Einführung der DRG an verschiedenen Orten falsche Anreize gesetzt habe.
Bestimmte Untersuchungen oder Operationen würden z.B. in Deutschland um ein Vielfaches häufiger durchgeführt als im OECD-Durchschnitt (prägnante Beispiele sind künstliche Hüften oder perkutane Koronarinterventionen).
Ein anderes wesentliches Thema des Vortrags ist eine besonders in den Jahren 1996 bis 2006 erfolgte deutliche Reduktion von Stellen im Pflegebereich. Diese sei jedoch nur zu einem Teil auf von außen auferlegte Budgetentwicklungen zurückzuführen, sondern wesentlich auch durch interne Budgetverschiebungen in den ärztlichen Bereich.
So ist die Zahl der ärztlichen Vollkräfte im Zeitraum 1991 bis 2017 um fast 70 % gestiegen, die der Pflegekräfte aber nur um 0,7 %. Fakt ist natürlich, dass im Pflegebereich ein deutlicher Stellenaufwuchs erforderlich ist.
Aktuell ist es so, dass in deutschen Krankenhäusern im Vergleich mit 12 anderen europäischen Staaten und den USA 13 Patienten auf eine qualifizierte Pflegefachkraft entfallen, während es im Durchschnitt (Deutschland mit einberechnet) 9,5 Patienten sind. In den skandinavischen Ländern ist der Workload mit durchschnittlich 7,1 Patienten gegenüber Deutschland sogar fast halbiert. Andererseits ist der Anteil von Ärzten im Krankenhaus in Deutschland im Vergleich mit entsprechenden Ländern deutlich höher.
Ich frage mich an dieser Stelle, warum ich dennoch von Kollegen, die z.B. einige Zeit in skandinavischen Ländern gearbeitet haben, höre, dass die Arbeitsbelastung dort viel geringer sei als in Deutschland. Auch die Assistenzärzte unserer Abteilung haben – mich eingerechnet – seit einem Vierteljahrhundert eine sehr hohe Arbeitsbelastung, mit sehr vielen Überstunden.
Ich frage mich auch, woran es liegt, dass man das Gefühl hat, die unbestritten hohe Qualität im deutschen Gesundheitssystem werde mit viel mehr Arbeitseinsatz erreicht als in der Schweiz, den Niederlanden oder den skandinavischen Ländern. Das ist wie bei einem Motor, der zwar nicht ganz rund läuft aber durch höhere PS eine vergleichbare Beschleunigung und Endgeschwindigkeit erreicht.
Vielleicht ist die administrative Unterstützung der Ärzte in diesen Ländern einfach deutlich besser; in deutschen Krankenhäusern müssen Ärzte jedenfalls sehr viele nicht primär ärztliche Aufgaben erledigen, wie die Organisation von notwenigen Untersuchungen mit allen daran hängenden Tätigkeiten wie dem ständigen Hinterhertelefonieren von Terminen.
Dr. Brauns Verdienst ist es, die Komplexität des Innenlebens des Krankenhauses herauszustellen – auch mir geht hier das eine oder andere Licht auf. Es gibt eben nicht die eine handstreichartige Maßnahme, um Heilung zu erzielen.
Wichtig sind auch seine Ausführungen zu Daten, die am Beispiel der Pflege klar belegen, dass Personalaufstockungen erst dann voll wirksam werden, wenn sie begleitet sind von einer Verbesserung von Arbeitskultur und effizienterer Organisation. Letzteres betreffe natürlich nicht nur krankenhausinterne Prozesse, sondern besonders auch das Zusammenspiel von ambulanter und stationärer Versorgung. Aber das ist ein weiteres Thema.
Braun widersetzt sich dezidiert der Betrachtung, dass die Ökonomisierung der Medizin erst so richtig mit der Einführung des DRG-Systems eingesetzt habe; das ist für ihn ahistorische Ignoranz.
In den 1980 bis 1990er Jahren kam es unter den Bedingungen des Selbstkostendeckungsprinzips und der tagesgleichen Pflegesätze zu einer weltweit führenden Liegezeitdauer in Deutschland, da Patienten einen Teil ihrer Zeit offensichtlich ausschließlich zum wirtschaftlichen Nutzen des Krankenhauses dort verbrachten. Medizin ohne Ökonomie zu denken, sei für ihn schlicht nicht möglich.
Den zweiten Vortrag des Abends bestreiten gemeinsam Prof. Heinz Naegler, Betriebswirt und 25 Jahre lang im Krankenhausmanagement tätig, und Prof. Karl-Heinz Wehkamp, langjährig klinisch tätiger Facharzt für Gynäkologie/Psychotherapie. Die Vortragenden präsentieren die Ergebnisse einer im November 2018 viel diskutierten Studie, die im Original „Ökonomisierung patientenbezogener Entscheidungen“ heißt.
Die Autoren waren landauf, landab zu Gast, weil das Ergebnis, wie der Titel der Originalarbeit bereits nahelegt, dem – auch von mir – Empfundenen natürlich exakt entspricht. Was haben sie gemacht? Im Kern haben die Autoren 21 Geschäftsführer sowie 20 Ärzte verschiedener Kliniken interviewt und ihnen ja/nein-Fragen vorgelegt. Zwei Beispiele:
Und so geht es weiter. Das Bild ist klar. Eigentlich müßte ich jetzt vollauf zufrieden sein, da meine schlimmsten Befürchtungen von zwei hochkompetenten Fachleuten in paritätischer Besetzung bestätigt wurden. Sie selber betonen, dass der eine Geschäftsführer und der andere Arzt sei. Ein rechtes Frohlocken will sich bei mir aber nicht einstellen.
Die Fragen haben einen hochsuggestiven Charakter. Ist das Ergebnis also trivial? Die Autoren begründen ihren qualitativen Ansatz mit dem Umstand, dass bei vielen statistischen Qualitätsstudien eine große Diskrepanz zwischen der ermittelten hohen Qualität und dem Erleben der Akteure besteht. Das ist korrekt. Viele Qualitätsberichte haben wenig empirischen Wert, dafür umso mehr Marketingcharakter. Was ist also der Beitrag der Studie?
Ganz einfach gesprochen zeigt sie, dass unter einer großen Mehrheit von Ärzten und anderer medizinischer Berufsgruppen das starke subjektive Empfinden besteht, dass ökonomische Erwägungen zunehmend ihr Handeln beeinflussen und dass dieses Empfinden sich negativ auf das Verhältnis zum eigenen Beruf auswirkt (Gefühl einer Entwertung).
Wie also heraus aus dieser Zwickmühle? Wie Braun mit Blick auf das Innenleben des Krankenhauses zurecht betont, ist es erstmal völlig natürlich, dass Geschäftsführer und Ärzte unterschiedliche Interessen haben.
Geschäftsführer haben gesetzlich definierte Verantwortlichkeiten, denen sie optimal genügen müssen. Daraus ergibt sich ein natürliches Spannungsverhältnis, das auch nicht einfach durch ethische Bemühungen gelöst werden kann, sondern vielleicht zunächst einfach einmal durch ein gegenseitiges explizites Konstatieren dieses Spannungsverhältnis.
Die Lösung des Problems – wenn es überhaupt eine einfache gibt – besteht meines Erachtens auch nicht in einer Überwindung ökonomischer Aspekte ärztlichen Handelns, sondern ihrer Einbindung in einer Art und Weise, wie am eingangs aufgezeigten simplen MRT-Beispiel illustriert, dass ein möglichst sparsamer Umgang mit Ressourcen Teil des medizinischen Handelns und damit unter der subjektiven Kontrolle der Ärzte ist.
Unter dieser Prämisse ist das medizinische System weiterzuentwickeln und das ist in der Tat, wie Naegler und Wehkamp herausstellen, ein gesamtgesellschaftliches Problem. Dazu gehören dann natürlich solche konkreten Schritte wie der Abbau von Überkapazitäten, die Minimierung von falschen Mengenanreizen, die bessere Verzahnung von ambulant und stationär und so weiter. Das Gelingen dieses Unterfangens hängt wesentlich an dem Impuls der eigenen Wertschätzung aller am medizinischen Prozess Beteiligten.
Bildquelle: Billy Huynh, Unsplash