„Vorsicht bei diesem Patienten, die Wahrscheinlichkeit für ein Delir nach der OP ist hoch!“ So oder so ähnlich könnte die Warnung vom neuen Kollegen mit dem seltsamen Namen lauten.
Er hört auf den nicht gerade eingängigen Namen ACS NSQIP Surgical Risk Calculator. (Die Abkürzungen stehen für American College of Surgeons National Surgical Quality Improvement Program). Dieser Operations-Risiko-Kalkulator ist ein Programm, das Chirurgen eine starke Stütze sein könnte. So ist er zum Beispiel dazu in der Lage, bei einem älteren Patienten postoperative Komplikationen vorherzusagen.
Ältere Patienten haben nach einer Operation ein höheres Risiko für gesundheitliche Probleme und Komplikationen als jüngere – vor allem, wenn sie Vorerkrankungen haben. Ein Forscherteam vom American College of Surgeons (ACS) hat daher jetzt ein Online-Tool, das aufgrund einer Vielzahl von Patientendaten entwickelt wurde, so weiterentwickelt, dass es auf der Grundlage der Gesundheitsdaten eines älteren Patienten (65 Jahre und älter) dessen Risiko für postoperative gesundheitliche Probleme vorhersagen kann.
Es handelt sich um ein validiertes Online-Tool, in das Ärzte 20 verschiedene Gesundheitsinformationen von Patienten sowie die geplante chirurgische Maßnahme eingeben können und das daraufhin die Wahrscheinlichkeit für 18 gesundheitliche Probleme in den ersten 30 Tagen nach der Operation berechnet. Dazu gehören zum Beispiel das Risiko für schwere Komplikationen, eine Lungenentzündung, eine Thrombose oder eine Wundinfektion.
So sieht der Risk Calculator aus. Quelle: ACS NSQIP
Der Risk Calculator wurde mithilfe der Daten von über 4,3 Millionen Operationen in 780 Krankenhäusern im Zeitraum von 2013 bis 2017 entwickelt. Er soll Ärzten helfen, auf der Basis dieser Informationen Entscheidungen zu treffen, um so die Qualität der Versorgung nach Operationen zu erhöhen. Bisherige Studien haben gezeigt, dass der Risk Calculator die Qualität der chirurgischen Versorgung verbessert, die Komplikationensrate verringert und Kosten reduziert.
Im Jahr 2014 hat das American College of Surgeons zudem das Geriatric Surgery Pilot Project gestartet, in dem die beteiligten Krankenhäuser Daten über ältere Patienten sammelten, die anschließend systematisch ausgewertet wurden. In einer neuen Studie untersuchte ein Forscherteam um Ronnie A. Rosenthal von der Yale University School of Medicine in New Haven (USA) mithilfe der neu erhobenen Daten, ob der Surgical Risk Calculator das Risiko für vier postoperative Probleme, die häufig bei älteren Patienten auftreten, zuverlässig vorhersagen kann:
Als Vorhersagefaktoren verwendeten die Forscher neben den bisherigen 21 Gesundheitsinformationen sechs weitere Faktoren:
„Wir haben diese Variablen gewählt, weil sie in direktem Bezug zu den gesundheitlichen Folgen einer Operation bei älteren Patienten stehen“, erläutert Rosenthal. „So haben Patienten, die im Jahr vor der Operation gestürzt sind, nach einer Operation ein erhöhtes Risiko für funktionelle Beeinträchtigungen. Und Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen haben ein erhöhtes Risiko für ein postoperatives Delir.“
Insgesamt werteten die Forscher die Daten von 38.048 Patienten ab 65 Jahren aus, die zwischen 2014 und 2017 an einem der 21 teilnehmenden Krankenhäuser operiert worden waren. Damit handelt es sich um die bisher größte Studie zur Vorhersage postoperativer Komplikationen bei älteren Patienten. Die Auswertung ergab, dass 42 Prozent der Patienten nach der Operation eine Mobilitätshilfe brauchten. Bei 38 Prozent kam es zu einem funktionellen Abbau, bei 10,5 Prozent trat ein Delir auf und 1,4 Prozent entwickelten einen Dekubitus.
Weiterhin zeigte sich, dass die neuen sechs geriatrischen Faktoren dazu beitrugen, die Qualität der Vorhersage für das Auftreten postoperativer Probleme zu verbessern. Dabei sagten kognitive Beeinträchtigungen, Stürze im Jahr vor der Operation und das Angewiesensein auf eine Mobilitätshilfe das Risiko für postoperative Komplikationen am besten vorher.
Die neuen Risikofaktoren wurden daher in den ACS NSQIP Surgical Risk Calculator integriert. Seit dem 19. August 2019 kann er nun auch genutzt werden, um gesundheitliche Risiken nach einer Operation speziell für Patienten ab 65 Jahren vorherzusagen. „Außerdem gibt er Chirurgen Hinweise, auf was sie achten sollten, wenn sie einen Patienten und dessen Angehörige beraten.“ So könnte der Arzt sie bei nicht unbedingt notwendigen Operationen bereits vor der OP über mögliche Risiken aufklären. Weiterhin könnte er sie beraten, wie sie am besten mit möglichen gesundheitlichen Problemen umgehen können – etwa, dass der Patient mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zuhause weiterhin Unterstützung benötigen wird.
„Insgesamt ist der Surgical Risk Calculator sicherlich ein hilfreiches Tool, um gesundheitliche Risiken nach einer Operation besser einzuschätzen“, sagt Michael Forsting. Er ist Direktor des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Radiologie und Neuroradiologie am Universitätsklinikum Essen und beschäftigt sich zugleich mit Ansätzen der Künstlichen Intelligenz (KI) in der Medizin. „Allerdings sind die Risikofaktoren, die dort berücksichtigt werden, weitgehend bekannt und jeder Chirurg oder andere Arzt würde sie bei der Bewertung postoperativer Risiken berücksichtigen.“
Außerdem gebe der Surgical Risk Calculator nur statistische Wahrscheinlichkeiten an, die im Einzelfall wenig hilfreich seien, so der Experte – und er berücksichtige nicht die Erfahrung des Chirurgen, die für den Gesundheitszustand nach einer Operation eine wichtige Rolle spiele. Gerade für junge Chirurgen, die ihre Erfahrungen erst sammeln müssen, könnte das Tool eine nützliche Stüzte sein. „Insgesamt liefert das Tool zwar keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse“, fasst Forsting zusammen, „aber es kann ein gutes, praktisches Hilfsmittel sein, das Ärzten als Orientierungshilfe dienen kann.“
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