Was an Spahns neuem Gesetzesentwurf zur Notfallversorgung gut ist? Nicht viel, finden seine Kritiker. Ihre Prognose: An den brechend vollen Notfallambulanzen wird sich nichts ändern.
Seit einigen Tagen liegt der Gesetztesentwurf zur Reform der Notfallversorgung vor (wir berichteten). Zwar gab es auch lobende Worte, etwa von SPD-Politikerin Bärbel Bas, für die der Entwurf „im Sinne der Patienten in die richtige Richtung“ geht. Doch die Kritik scheint zu überwiegen. Vor allem, wenn man bei Medizinern nachfragt.
Klare und kritische Worte findet zum Beispiel die Gesellschaft für Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Sie veröffentlichte kürzlich eine Stellungnahme zum Thema. Darin ist von einem „großen Aber“ die Rede. „Der Gesetzentwurf krankt inhaltlich […] an zum Teil erheblichen Mängeln“, lautet der Vorwurf.
Erster Kritikpunkt sind die geplanten Integrierten Notfallversorgungszentren (INZ), die es an „etwa jedem zweiten an der Notfallversorgung teilnehmenden Krankenhaus geben“ soll: Patienten melden sich an einem Tresen, wo eine Ersteinschätzung stattfindet und werden anschließend entweder in den KV-Bereich (KV steht für kassenärztliche Vereinigung) oder in die Zentrale Notaufnahme der Klinik weitergeleitet. „Eine an sich gute Idee“, sagt Prof. Gries, DIVI-Stellvertreter und Ärztlicher Leiter der Zentralen Notaufnahme/Notaufnahmestation am Universitätsklinikum Leipzig. „Allerdings unter der fachlichen Leitung der KV! Das ist für die DIVI inakzeptabel!“
Auch DIVI-Präsident Dr. Janssens kommt zu Wort: „Bei den Plänen für das INZ geht es in weiten Teilen nur ums Geld – nicht um eine qualitativ hochwertige Versorgung aller Patienten“, formuliert er es. Durch die Neuerung werde nur dafür gesorgt, der KV die Steuerungshoheit zu sichern, das durch die Notfallversorgung eingenommene Geld werde in den ambulanten Sektor umgelenkt. „Bereits heute nehmen diese Patienten aber häufig doppelt Ressourcen in Anspruch: Nach primärer Beratung in der KV-Praxis erfolgt die medizinische Notfallversorgung dann häufig doch in der Zentralen Notaufnahme“, lautet das Fazit in der Meldung.
Eine Zentralisierung befürwortet die Gesellschaft. Auf diese Weise wird dem Patienten die Entscheidung, wo er nun hingehen soll, abgenommen. Allerdings sei diese nur unter der Bedingung sinnvoll, dass Krankenhaus und KV zusammenarbeiten und sich die Leitung in allen Bereichen teilen. Andernfalls geht sie davon aus, dass „die zeitnahe und unmittelbare Versorgung von tatsächlichen Notfällen, die heute in Zentralen Notaufnahmen rund um die Uhr erfolgt“, sich qualitativ verschlechtern wird.
Was den durchschnittlichen Notaufnahme-Besucher angeht, kritisiert die DIVI eine falsche Wahrnehmung von außen: „Generell, so wird auch von anderen Seiten kritisiert, ist der Gesetzentwurf stark von dem Glauben geprägt, viele Patienten in den Notaufnahmen säßen hier nur mit Bagatellen wie beispielsweise Schnupfen oder eingewachsenen Zehennägeln“, heißt es in dem Text. „Unser Alltag zeigt eine andere Wirklichkeit“, stellt Gries klar. „Die meisten der Patienten sind tatsächlich akut z.T. lebensbedrohlich erkrankt und bedürfen sofortiger notfallmedizinischer Versorgung bzw. fachspezifischer Weiterbehandlung.“ Das sehen tatsächlich viele medizinisch Tätige anders, wie auch aus den Kommentaren auf unserem Portal hervorgeht.
„Grundproblem ist, dass zu viele Menschen wegen Bagatellen zum Arzt gehen wollen, dass zu viele Menschen auch noch therapiert werden wollen, wenn es nichts mehr zu therapieren gibt […]“, sagt etwa ein Anästhesist. „Das ist der übliche politische Schwachsinn. In Deutschland wird vollmundig jedem Kasper alles versprochen, für kleines oder gar kein Geld und so wird das System missbraucht und ausgequetscht“, kritisiert ein weiterer Narkosearzt. „Solange der Verbraucher/Patient rund um die Uhr kostenlos im System die Puppen tanzen lassen darf, wird sich nichts ändern, egal wie man umstrukturiert“, sagt ein Allgemeinmediziner.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, den die Gesellschaft als Fehler einschätzt: „Krankenhäuser ohne INZ, bei denen aber trotzdem Patienten in der Tür stehen, sollen mit 50 Prozent Abschlag auf ambulante Leistungen bestraft werden.“ Gries findet den Vorschlag absurd, da Patienten nicht abgewiesen werden dürfen. Demnach bleibe diese Klinik auf den Kosten sitzen oder könne die erbrachten Leistungen nur abrechnen, wenn die Patienten stationär aufgenommen werden. Aus Sicht der DIVI ein Fehlanreiz, „es wäre sinnvoller, wenn Krankenhäuser der Akut- und Notfallversorgung dem G-BA-Beschluss entsprechend ausgewiesen werden, jedes ein INZ einrichtet und dann seine Leistungen auch komplett vergüten kann.“
Auch das gemeinsame Notfallleitsystem (GNL) kommt nicht gut weg. Gemeint sind damit die Notfallnummer 112 und 116 117. Zwar findet die Zentralisierung an sich bei der DIVI Zuspruch, aber das war es dann auch schon. Dass weiterhin beide Notfallnummern parallel bestehen bleiben, bezeichnet die Gesellschaft als problematische Doppelstruktur. „Besser wäre es, eine einzige Notfallnummer in der Bevölkerung zu etablieren.“
Des Weiteren fordert die DIVI eine Optimierung im Rettungsdienst. Er soll „als eigenständiger GKV-Leistungsbereich anerkannt werden und mit Verabschiedung des Gesetzentwurfes die tatsächliche Leistung, nicht wie bisher nur der Transport, finanziert werden.“ Gries rät zur Vorsicht, da trotz niedriger Einsatzzahlen, etwa im ländlichen Gebiet, die Vorhaltekosten weiter gedeckt sein müssen. „Das behalten wir als DIVI entsprechend im Auge“, ergänzt Janssens.
Auch in der DocCheck-Community sieht man in der 112 und 116 117 keine Lösung. „Dass die 112 und die 116 117 in derselben ILS aufläuft, haben wir schon seit ein paar Jahren. Besser ist es dadurch nicht geworden, eher im Gegenteil: Wenn jemand ein paar Mal nachfragt, wo denn der Arzt bleibt, wird halt mal ein RTW hingeschickt, damit er Ruhe gibt“, erklärt ein Notfallsanitäter. Auch der Aufnahme des Rettungsdienstes als eigenständigen Leistungsbereich kann er nicht viel abgewinnen. „Das Problem ist ja nicht, dass die Patienten aus finanziellen Gründen transportiert werden, sondern aus rechtlichen Gründen. Ein Notfallsanitäter hat eigentlich nicht die Kompetenz, einen Patienten zuhause zu lassen. Seine Aufgabe ist es, den Patienten einer ärztlichen Versorgung zuzuführen“, erklärt er.
„Daheimlassen würde einer Diagnosestellung entsprechen. Wenn da irgendetwas verrutscht, hat die RTW-Besatzung ein großes Problem. Also werden die Patienten im Zweifelsfall zu einem Arzt (meistens ins Krankenhaus) gebracht.“ Daran würde auch der neue Gesetzesentwurf nichts ändern. Seiner Ansicht nach würde sich die Situation nur verbessern, „wenn der Ärztliche Bereitschaftsdienst wieder soweit aufgestockt würde, dass nicht mehrere Stunden Wartezeit normal sind.“
Wenig überraschend ist der Personalmangel ein Kernthema in der Diskussion. „Es ist doch völlig egal, wie ich die Institution nenne und wie die Telefonnummer lautet. Das Problem ist, dass zu viele Patienten von zu wenig Pflegepersonal und Ärzten zu jeder Zeit alles gemacht bekommen wollen […]“, beschreibt eine Gynäkologin die aktuelle Situation. Alle geplanten Änderungen bringen nichts, kommentiert eine Hebamme, bevor der Bundesgesundheitsminister „nicht begreift, dass er seine Leute anständig bezahlen und gute Arbeitsbedingungen schaffen muss, um der Personalnot im Gesundheitssektor Herr zu werden.“
Abschließend betont die DIVI, dass alles Planen nichts hilft, wenn der Patient keine Lust hat, mitzumachen. Schließlich stehe es jedem frei, den vorgegebenen Weg eben nicht einzuschlagen. Konsequenzen bei Nichteinhaltung gibt es nicht. Wie soll man also vorgehen? „Hier muss mehr Verbindlichkeit her“, so Gries. Auch viele unserer Leser sprechen sich für härtere Regeln aus. „Es muß wieder eine Gebühr für Inanspruchnahme eingeführt werden“, findet ein Arzt. „Es geht nur übers Geld: 10 € pro ambulantem Arztbesuch, 30 € pro Hausbesuch, 50 € für den Krankentransport, wenn es kein Notfall ist“, lautet ein konkreter Vorschlag in den Kommentaren.
Gries ist seit über 30 Jahren in verschiedenen Bereichen der Notfallmediziin tätig. Bei aller Kritik am Referentenentwurf räumt er zwar auch ein, dass darin durchaus gute Vorschläge enthalten seien und offene Fragen angegangen würden. Er betont trotzdem: „Die schwerwiegenden Mängel im Entwurf müssen aber noch korrigiert werden.“
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Bildquelle: Elina Krima, Pexels