Soziale Medien sind aufgrund ihrer gesellschaftlichen Verankerung sowie der Durchdringung der Gedankenwelt und Verhaltensweisen der Nutzer eine Fundgrube für Neurowissenschaftler. So eine aktuelle Studie, die Facebook und Co. diesbezüglich großes Forschungspotential zuspricht.
„Neurowissenschaftliche Forschung, die sich auf die sozialen Medien stützt, steckt noch in den Kinderschuhen“, sagt der Ko-Autor der Studie, Dr. Dar Meshi von der Freien Universität Berlin. Doch die Zahl an Menschen, die Zeit in den sozialen Medien verbringen, sei enorm; schon jetzt hielten sich viele Menschen mehrere Stunden am Tag in den sozialen Medien auf. Dadurch würden die Online-Umgebungen zunehmend wertvoll auch für wissenschaftliche Studien, denn sie ließen Rückschlüsse auf soziale Interaktionen der Nutzer zu. In der Studie stellten die Forscher fest, dass Neurowissenschaftler sich Ähnlichkeiten im Online- und Offline-Verhalten von Usern zunutze machen könnten, weil das Online-Verhalten Rückschlüsse auf deren Sozialverhalten in der realen Welt zulasse. So könne beispielweise das Verhalten der Nutzer in den sozialen Medien mit dem Ziel analysiert werden, etwas über deren emotionale Verfassung zu erfahren. Aus den Änderungen im Umfang der Aktivitäten eines Nutzers in den sozialen Medien, die sich Posts und Tweets anderer Nutzer ausgesetzt haben, lasse sich beispielsweise etwas über deren Konformität im Sozialverhalten ablesen. Zudem gebe etwa die Art, wie und in welchem Umfang Nutzer Nachrichten in den sozialen Medien ansteuerten, Hinweise auf deren Neugierde; der digitale Fußabdruck in den sozialen Medien insgesamt erlaube Rückschlüsse auf deren Persönlichkeitsmerkmale.
Wie die Wissenschaftler weiter herausfanden, lässt sich auch Nutzen aus Unterschieden zwischen den sozialen Umgebungen - online und offline - ziehen. So teilten Menschen in einer realen Unterhaltung mit anderen während rund 30 Prozent des Gesprächs Informationen über sich selbst. Online dagegen, wo Menschen unbegrenzte Möglichkeiten haben, Informationen zu teilen, würden rund 80 Prozent der Posts mit Informationen über sich selbst bestritten. Auch die Auswirkungen sozialer Normen auf das Verhalten in Offline- und Online-Umgebungen könnten untersucht werden: So würden soziale Normen in einem realen Gespräch in der Regel ein höfliches Verhalten vorgeben, während im Verhalten offline die Distanz in Plattformen sozialer Netzwerke zu einer Verletzung dieser Normen verleiten könne. „Dadurch, dass sich Menschen in den sozialen Medien durch die Distanz zu anderen Menschen von einigen sozialen Normen gewissermaßen entbunden fühlen, die normalerweise ihr Verhalten prägen, erlaubt deren Verhalten in sozialen Medien interessante Einblicke“, betont Dar Meshi. So könnten die Wurzeln des sozialen Verhaltens und die verschiedenen Einflussfaktoren analysiert werden. Neurowissenschaftler könnten beispielsweise bestimmte Verhaltensfaktoren in Online-Umgebungen messen und diese Ergebnisse auf die Struktur und Funktion des Gehirns beziehen. Auf diese Weise sei es möglich zu ergründen, wie sich das Sozialverhalten von Menschen verändert, wenn sie sich in neuen Umgebungen aufhalten.
Dar Meshi betont, dass die sozialen Medien nicht nur Werkzeuge wissenschaftlicher Analysen sein dürften; Forscher müssten auch die positiven und negativen Auswirkungen der Nutzung sozialer Medien auf die Menschen selbst in den Blick nehmen. Dies sei wichtig angesichts des beträchtlichen Anteils von Kindern und Jugendlichen. „Die Nutzung sozialer Medien können positive Auswirkungen haben“, unterstrich der Wissenschaftler. Doch es müsse erforscht werden, wie sich die Nutzung auf das Gehirn auswirke angesichts der Tatsache, dass soziale Medien auch süchtig machen können und dies zu einer Verschlechterung der schulischen Leistungen, zum Verlust des Arbeitsplatzes und zu einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens führen könne. Originalpublikation: The Emerging Neuroscience of Social Media Dar Meshi et al.; Trends in Cognitive Sciences, doi: 10.1016/j.tics.2015.09.004; 2015