Es fühlt sich aufregend an, kann aber auch Angst machen, wenn man plötzlich alleine das Sagen hat. Vor allem, wenn es um einen Patienten mit Schaum vorm Mund geht. Panik steigt in mir auf.
Der Anruf der internistischen Kollegin kommt nachts um zwei, etwa eine halbe Stunde, nachdem mir mein Pflegeteam erlaubt hat, mich ein bisschen hinzulegen.
„Hey, hier ist Luisa. Kann ich dich kurz was fragen?“
Na jetzt bin ich ja eh schon wach. „Was denn?“
„Also ich bin grade auf der Station A4, die haben da einen Patienten, den haben sie beim nächtlichen Rundgang im Bett gefunden mit Schaum vor dem Mund und er reagiert nicht mehr auf Ansprache, sein Blutdruck ist ein bisschen knapp und er atmet nicht so gut, vielleicht ist es ein epileptischer Anfall oder so? Könntest du dir den nicht mal anschauen? Vielleicht muss der ja eh auf die Intensivstation.“
Ich mache mich auf den Weg zum Patientenzimmer und rufe kurz auf der IPS an, um sie vorzuwarnen, dass da etwas kommen könnte. Ich betrete das Zimmer und verschaffe mir einen ersten Eindruck. Der Patient liegt im Bett, reagiert nicht auf Ansprache und atmet oberflächlich.
„Wie sind Blutdruck, Puls und Sättigung?“, will ich erst mal wissen.
„Letzter Blutdruck war“ – sie schaut auf einen Zettel – „90/40. Puls 110. Sättigung 50 %.“
„Wie, Sättigung 50 %. Ernsthaft?“ Ich sehe das kleine Kästchen zur Messung der Sättigung und nehme es in Augenschein. 56 %. Mit der Info hätte sie ruhig früher rausrücken können. Ich nehme mein Stethoskop, um kurz auf die Lunge zu hören, doch nach nur zwei Atemzügen ist Schicht im Schacht und Ruhe in der Brust – ein dritter Atemzug folgt nicht.
„Drückt doch bitte mal den Rea-Knopf, ja?“ Der Alarm geht auf die Dienstsucher der medizinischen und intensivmedizinischen Assistenzärzte – das sind wir beide, aber auch auf den Sucher der Anästhesie. Und die Oberärztin der Anästhesie hätte ich jetzt gerne am Bett.
Bevor wir mit der Wiederbelebung beginnen können, atmet der Patient wieder. Er hat nur eine Pause von einigen Sekunden gemacht. Doch von alleine wird er wohl nicht besser, wir müssen etwas tun. Ich hoffe darauf, dass meine Oberärztin ins Zimmer geschneit kommt und die Situation in die Hand nimmt – Susanna hat Nachtdienst, sie ist sehr erfahren und weiß bestimmt, was zu tun ist.
Doch sie kommt nicht.
Stattdessen steht nach kurzer Zeit Christine vom Anästhesiepflegeteam im Zimmer, den Einsatzrucksack auf dem Rücken. „Tach auch“, sagt sie. „Susanna ist im OP und überwacht eine Narkose, sie hat mich geschickt.“
Nun ist es in der Schweiz etwas anders als in Deutschland (wo die meisten meiner LeserInnen herkommen). Hier darf die Anästhesiepflegekraft Narkosen selbständig überwachen, und eigentlich fast alles machen, was ein Assistenzarzt auch darf, außer Regionalanästhesien und Aufklärungsgespräche. Susanna, die Oberärztin, hätte Christine durchaus alleine oben lassen dürfen – aber ich kenne Susanna. Sie ist schon etwas älter und hat nicht mehr so viel Lust, mit einem schweren Rucksack durchs Haus zu rennen, also schickt sie mir die Pflege.
Christine ist eine unserer besten, und ich bin froh, dass sie da ist, aber das wiederum bedeutet: Ich bin die dienstälteste Ärztin im Raum. Alle schauen mich erwartungsvoll an. Für einen Moment merke ich, wie Panik in mir aufsteigt, die Angst vor der Verantwortung, etwas falsch zu tun, keine Ahnung zu haben. Das Gefühl vergeht schnell, weil es eben muss. Ich schlucke es runter, und plötzlich geht alles von allein.
„Okay, ich brauch mal eine Diagnoseliste und Medis vom Patienten, bringt mal einen Laptop her oder so. Christine, pack bitte den Defi aus und gib mir den Beatmungsbeutel.“
Luisa geht und druckt die Diagnoseliste aus, die sie mir anschließend vorliest. Ich beginne, die Atemzüge des Patienten mit dem Beutel zu unterstützen. Die Sättigung steigt damit langsam an, das ist immerhin etwas. Nachdem Christine den Defi am Patienten angebracht hat, übernimmt sie die Beatmung. Den Defi brauche ich vor allem, weil er mir das EKG anzeigt, meine einzige Möglichkeit zur Überwachung der Herzströme in dieser Situation.
„Okay. Atemwege sind frei. Beatmung funktioniert. EKG ist okay, Puls in der Leiste ist tastbar. Soweit, so gut. Wir gehen jetzt so auf die IPS und intubieren da.“
Eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf wundert sich. Darfst du alleine intubieren, so ganz ohne Facharzt in der Nähe? Ich ignoriere die Stimme und gebe weitere Anweisungen, um den Transport in die Gänge zu bringen.
Auf die Anästhesistin zu warten, kostet Zeit. Intubieren kann ich auch selbst. Auf der IPS habe ich drei hervorraged ausgebildete Intensivpflegefachkräfte, das Videolaryngoskop, falls die Intubation schwierig sein sollte, sowie ein Arsenal an Medikamenten – und sie ist hier gleich um die Ecke. Das scheint mir sicherer, als in einem halbdunklen Zimmer mit knapp der nötigen Ausrüstung und nur einer ausgebildeten Fackraft zu intubieren, oder gar zu warten und zu riskieren, dass Atmung und Kreislauf des Patienten doch noch komplett aussetzen.
Die Fahrt zur IPS dauert keine Minute, und die Intubation gelingt mir problemlos. Nach kurzer Zeit unter der künstlichen Beatmung ist die Sauerstoffsättigung normal und der Patient stabil. Luisa und Christine verabschieden sich, während wir noch ein paar Schläuche und Kabel an den Patienten anschließen und anfangen, nach der Ursache für das Atemproblem zu forschen.
Normalerweise bin ich ein Ausbund an Selbstzweifeln und überlasse die Handhabung schwieriger Situationen lieber meinen Vorgesetzten. Die können das schließlich besser. Doch nun stand ich allein da, musste die Verantwortung übernehmen und Entscheidungen alleine fällen – und ich habe es getan. Patient lebt. Alles gut. Er konnte übrigens am nächsten Tag schon wieder normal atmen und zwei weitere Tage später zurück auf die Normalstation.
Bildquelle: Piron Guillaume, unsplash