Menschen mit nicht tumorbedingten Schmerzen erhalten in Deutschland häufig Opioide. Steigende Verordnungszahlen geben jetzt Anlass zur Sorge. So mancher Patient rutscht in die Dauermedikation, ohne vom Wirkstoff zu profitieren.
Reißen alle Stricke, verordnen Ärzte auch bei chronischen, nicht tumorbedingten Schmerzen Opioide. Mögliche Indikationen sind gemäß S3-Leitlinie unter anderem diabetische Polyneuropathien, Post-Zoster-Neuralgien, Phantomschmerzen, Schmerzen nach einer Rückenmarksverletzung, schmerzhafte Radikulopathien, chronische Arthroseschmerzen sowie chronische Rückenschmerzen – bei maximal zwölfwöchiger Therapiedauer. War die zeitlich befristete Anwendung speziell bei Rücken-, Arthrose- oder neuropathischen Schmerzen erfolgreich, stellen Opioide eine längerfristige Option dar. An Wirkstoffen mangelt es bei uns nicht – im Unterschied zu anderen Ländern.
Beim letzten Kongress der europäischen Schmerzföderation EFIC präsentierte Professor Dr. Hans Georg Kress, Wien, dazu eine aktuelle Übersicht. Wenig überraschend: In Westeuropa ist die Zahl unterschiedlicher Präparate deutlich höher als in Osteuropa. Deutschland verfügt über 47 zugelassene orale Opioid-Analgetika, die GKVen auch erstatten. Dann folgen Italien (42 Zulassungen/Erstattungen), Dänemark (37 Zulassungen/22 Erstattungen) und Schweden (35 Zulassungen/Erstattungen). Schlusslichter sind Kress zufolge der Kosovo (4 zugelassenen Medikamente, davon wird keines erstattet), Russland (4/4), Bosnien-Herzegowina (3/0) und die Ukraine ohne ein einziges orales Opioid. Europaweit ist noch viel zu tun, bis die Schmerzbehandlung nicht mehr vom Wohnort abhängt. Einige Beispiele.
Andreas Mellbye aus Trondheim hat untersucht, wie viele Patienten ohne Tumorerkrankung langfristig Opioide erhalten. Sein Vorteil war, dass Norwegens Gesundheitssystem alle Verordnungen zentral erfasst. Im Jahr 2005 nahmen 417.000 Menschen entsprechende Präparate ein. Bei rund zehn Prozent handelte es sich um Langzeitgaben, was Mellbye mit 180 oder mehr DDD definierte. Sechs Jahre später zeigte sich, dass unter allen Überlebenden der Langzeitgruppe 47 Prozent dauerhaft Opioide bekommen hatten. Die Dosissteigerung lag zwischen 60 und 120 Prozent. Unter Dauertherapie schluckte jeder Dritte außerdem Z-Substanzen und/oder Benzodiazepine, ebenfalls mit steigender Dosis. Trotz ärztlicher Behandlung litten einige Menschen weiterhin an starken Schmerzen, folgert Mellbye aus seiner Erhebung.
Norwegen bleibt kein Einzelfall – ähnliche Daten kommen aus dem heimischen Gesundheitssystem. Bei Versicherten der Barmer Ersatzkasse / Barmer GEK stiegen DDDs schwacher Opioide von 18 Millionen (2006) auf 19,7 Millionen (2009) an, das sind plus 9,5 Prozent. Starke Opioide schnellten um 35 Prozent von 9,4 auf 12,6 Millionen DDD nach oben. Laut Information der AOK und Kassenärztlichen Vereinigung Hessen erhielten im Jahr 2000 etwa 5,3 Prozent aller Versicherten ohne Krebs mindestens ein Rezept mit opioidhaltigen Analgetika; 2010 waren es bereits 6,9 Prozent. „Studien mit Krankenkassendaten weisen auf einen Anstieg von Langzeitverordnungen von Opioiden bei Patienten mit chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen (CNTS) in Deutschland in den letzten Jahren hin“, resümieren Experten in der Leitlinie „Opioide, Langzeitanwendung zur Behandlung bei nicht tumorbedingten Schmerzen“.
Grund genug für Wissenschaftler, die Lage in Deutschland genauer zu untersuchen. Privatdozent Dr. Winfried Häuser, Saarbrücken, wertete anonymisierte Daten 870.000 gesetzlich Versicherter aus. Von ihnen bekamen 1,3 Prozent Opioide langfristig aufgrund chronischer, nicht tumorbedingter Schmerzen. In dieser Gruppe stellten Ärzte mindestens eine Verordnung pro Quartal aus, und zwar über drei Quartale hinweg. Sie entschieden sich im Schnitt für 58 Milligramm Morphinäquivalent pro Tag – eine Hochdosistherapie mit mehr als 100 Milligramm pro Tag hatten 15,5 Prozent aller Erkrankten. Die Überraschung: Häuser fand keine einzige Klinikeinweisung aufgrund von Opioid-Indikationen. Lediglich ein Prozent aller Personen musste wegen sonstiger Auffälligkeiten in Zusammenhang mit der Analgesie stationär behandelt werden. Opioidabhängigkeit und Opioidmissbrauch unter einer Pharmakotherapie sind bei uns – verglichen mit anderen Ländern – momentan eher seltene Phänomene. Das ist die gute Nachricht.
Hiobsbotschaften kommen aus der Forschung. Professor Dr. Christoph Stein, Berlin, wollte wissen, ob Patienten mit nicht krebsbedingten chronischen Schmerzen tatsächlich von Opioiden profitieren. Im Rahmen einer Metaanalyse wertete er 46 randomisierte klinische Studien aus. Erkrankte erhielten entsprechende Präparate mindestens drei Wochen lang. Sie gaben ihre Schmerzintensität auf einer Skala von 0 bis 100 Punkten an. Verglichen mit Placebo linderten starke Opioide die Pein um 12,0, schwache Opioide um 10,6 und Nicht-Opioide um 8,4 Punkte. Die Unterschiede waren statistisch nicht signifikant. Als Kritikpunkt steht im Raum, Ärzte würden sich bei der Medikation zu stark am WHO-Stufenschema orientieren. Diese Empfehlungen wurden ursprünglich für Tumorschmerzen entwickelt. Nichtmedikamentöse Ansätze, etwa Physio- oder Psychotherapien, bleiben unbeachtet.