Sie verspüren Zwänge, die ihnen das Leben schwer machen: Patienten mit Zwangsstörungen. Es gibt ein ungewöhnliches Behandlungsmodell, das zwar zu funktionieren scheint, aber kaum zum Einsatz kommt.
Ein bis zwei Prozent der Menschen sind im Lauf ihres Lebens von einer Zwangsstörung betroffen, einer schweren Erkrankung, die die Betroffenen im beruflichen und privaten Leben stark beeinträchtigt. Die meisten leiden viele Jahre unter ihren Symptomen. Entweder, weil die Störung erst spät diagnostiziert wird oder weil sie keine oder keine wirksame Therapie erhalten. Viele Patienten schämen sich für ihre Zwänge, daher sind die Behandlungsraten niedriger als bei anderen psychischen Erkrankungen. Und selbst wenn die Patienten eine Psychotherapie wahrnehmen, erhält nur etwa ein Drittel Expositionsübungen in Begleitung des Therapeuten – die bisher wirksamste Form der Therapie. Darüber hinaus leidet ein kleiner Teil der Patienten unter einer schweren Zwangsstörung, die auf keine der bisherigen Therapieformen anspricht. Wissenschaftler und Kliniker suchen daher seit Jahren nach neuen, effektiven Behandlungsansätzen. Ein Forscherteam ist überzeugt, eine Lösung gefunden zu haben: B4DT.
Dabei hat die norwegische Forschergruppe aus einer Not eine Tugend gemacht: Ende 2016 gab es an der Universitätsklinik Oslo eine Warteliste mit 101 Zwangspatienten, die per Gesetz das Recht auf eine spezifische Therapie für Zwangsstörungen hatten. Das Expertenteam für Zwangsstörungen der Klinik bot daraufhin allen Patienten an, an einer intensiven viertägigen Gruppentherapie für Zwangsstörungen teilzunehmen, die bereits in vorangegangen Untersuchungen gute Erfolge gezeigt hatte. Die so genannte Bergen-4-Tages-Therapie (B4DT) wird an vier aufeinanderfolgenden Tagen in Gruppen von sechs Patienten mit der gleichen Anzahl an Therapeuten durchgeführt.
Am ersten Tag erhalten die Patienten Informationen über die Zwangsstörung und über den Ablauf der geplanten Exposition. Bei dieser sollen sie sich den angstbesetzten Situationen stellen und lernen Strategien, um ihre Angst und ihr Unbehagen auszuhalten, ohne Zwangshandlungen durchzuführen. An den folgenden zwei Tagen wird acht bis zehn Stunden lang eine intensive Exposition mit Reaktionsverhinderung in einer Reihe alltagsnaher Situationen durchgeführt. Am letzten Tag werden die Lernerfahrungen der beiden Expositions-Tage noch einmal zusammengefasst und es wird besprochen, wie die Patienten die gelernten Strategien konsequent in ihrem Alltag umsetzen können.
Insgesamt entschieden sich 90 von 97 der Patienten mit einer mittelschweren bis schweren Zwangsstörung, an der Behandlung teilzunehmen. 91,1 Prozent zeigten nach der Therapie eine klinisch relevante Verbesserung (Response) und 72,2 Prozent waren in Remission. Drei Monate nach dem 4-Tages-Training lag die Response-Rate noch bei 84,4 Prozent und die Remissions-Rate bei 67,7 Prozent. Als klinisch relevante Response definierten die Forscher, orientiert an internationalen Konsens-Kritierien, eine Verringerung der Zwangssymptome auf der Yale Brown Obsessive Compulsive Scale (Y-BOCS) um 35 Prozent, als Remission einen Y-BOCS-Wert von 12 oder weniger Punkten.
Darüber hinaus war die Akzeptanz der Therapie durch die Patienten sehr hoch. Die Forscher um Bjarne Hanssen und Gerd Kvale von der Universität Bergen schließen daraus, dass die B4DT eine gut akzeptable und möglicherweise wirksame Behandlung für Zwangserkrankungen ist. Aufgrund der Ergebnisse bietet das Oslo University Hospital die Therapie seitdem als Standardbehandlung an.In einer weiteren Untersuchung mit 65 Patienten zeigte sich, dass die Response-Rate nach 12 Monaten noch bei 83,1 Prozent lag und bei 67,7 Prozent der Patienten keine Zwangsstörung mehr vorlag. Darüber hinaus verringerten sich auch Depressionen und generalisierte Angst der Patienten signifikant. 89 Prozent beurteilten die Behandlung als sehr gut. Schließlich ergab eine Studie bei einem Follow-Up nach 4 Jahren eine Remissions-Rate von 69 Prozent. Die am Ende der Vier-Tages-Therapie erreichten Verringerungen der Zwangssymptome blieben auch vier Jahre nach Ende der Behandlung erhalten. Weiterhin hatte sich auch die Arbeitsfähigkeit der Patienten deutlich verbessert: Während zu Beginn der Therapie nur 65 Prozent arbeiteten oder studierten, waren es vier Jahre nach Ende der Behandlung 88 Prozent.
Insgesamt führe die B4DT sowohl nach Abschluss der Therapie als auch bei einem Follow-Up nach 12 Monaten zu größeren Veränderungen der Zwangssymptome als eine Standardtherapie mit Exposition und Reaktionsverhinderung, so die Wissenschaftler. Darüber hinaus sei die Drop-Out-Rate in den verschiedenen Studien sehr gering gewesen, nämlich bei unter einem Prozent, während sie in anderen Studien bei einer Therapie mit Exposition und Reaktionsverhinderung um die 15 Prozent liege. „Die Ergebnisse legen eine deutlich höhere Kosten-Effizienz der B4DT im Vergleich zu bisherigen Therapien nahe“, schreiben die Wissenschaftler. Ein Einschränkung der Studien sei das Fehlen einer unbehandelten bzw. mit einer Standardtherapie behandelten Kontrollgruppe. Daher sollten in Zukunft weitere, randomisiert-kontrollierte Studien durchgeführt werden, die die B4DT direkt mit einer ERP mit ein- oder mehrstündigen wöchentlichen Sitzungen vergleichen.
Als Gründe für die gute Wirksamkeit der Therapie vermuten die Wissenschaftler das intensive Üben in verschiedenen, alltagsrelevanten Situationen, das Einüben konkreter Strategien zur Bewältigung der Zwänge sowie die intensive Betreuung der Patienten durch mehrere Therapeuten. Weiterhin könnte das Zusammensein mit anderen Patienten, die ähnliche Symptome haben und einen ähnlichen Veränderungsprozess durchlaufen, zu den guten Therapieerfolgen beigetragen haben.
„Die Studien der norwegischen Forschergruppe zeigen, dass eine intensive Exposition in Blockform sehr effektiv ist, um Zwangssymptome deutlich und nachhaltig zu verringern“, sagt Ulrich Voderholzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Für viele Zwangspatienten sei eine ambulante Psychotherapie mit einer Stunde pro Woche die Regel – doch dies reiche für die Mehrzahl der Zwangspatienten nicht aus. „Stattdessen wäre es sinnvoller, im Laufe der Therapie mehrere bzw. mehrstündige Sitzungen pro Woche durchzuführen, zum Beispiel drei Mal pro Woche drei Stunden“, so Voderholzer. „Unserer Erfahrung nach ist es wichtig, dass die Patienten sich mit ihren schlimmsten Ängsten auseinandersetzen und diese bewältigen – ebenso wie mit den hinter den Zwängen stehenden Gefühlen wie Einsamkeit, Traurigkeit oder traumatischen Erlebnissen in der Kindheit.“ Wichtig sei auch, dass die Therapeuten mit ihren Patienten das Praxiszimmer verlassen und in realen Situationen üben würden – und dass die Patienten dabei Strategien lernen, um ihre Ängste selbst zu bewältigen. „Viele Patienten, die zu uns in die Klinik kommen, haben leider nie eine solche Expositionsbehandlung erhalten. Oft wird in der Therapie nur geredet, aber nicht geübt“, kritisiert der Zwangsexperte. „Daher wäre es schon eine deutliche Verbesserung in der Therapie von Zwangsstörungen, wenn die Mehrzahl der Therapeuten solche intensiven Expositionsübungen außerhalb der Praxis durchführen würde.“
Doch es gibt auch eine kleine Gruppe von Patienten, bei denen die Zwangssymptome auf keine der bisherigen Behandlungsmöglichkeiten ansprechen – auch nicht auf mehrfache intensive Therapien oder hochdosierte Medikamente. Dies betrifft geschätzt ein bis zwei Prozent der Patienten. „Hier kommt in Einzelfällen als Mittel der letzten Wahl eine tiefe Hirnstimulation zum Einsatz, die nur in dafür spezialisierten Zentren durchgeführt werden darf“, erläutert Voderholzer. Die Behandlungsform der tiefen Hirnstimulation ist nicht gänzlich unumstritten. Experten sprechen von einem „Spannungsfeld zwischen dem ethischen Gebot des Nicht-Schadens und dem Gebot, dem Patienten Hilfe zu leisten“.
Im Prinzip passiert bei dem Verfahren folgendes: „Elektroden, die bestimmte Hirnregionen stimulieren, werden dauerhaft im Gehirn implantiert“, wie Vorderholzer erklärt. Eine andere Möglichkeit, die derzeit intensiv erforscht wird, ist die die transkranielle Magnetstimulation (TMS), bei der Spulen mit starken Magnetfeldern über dem Schädel angebracht werden, um bestimmte Hirnareale gezielt zu stimulieren. Hier wird derzeit vor allem untersucht, bei welchen Zielregionen und mit welchen Frequenzen die Hirnstimulation am wirksamsten ist.
Einige Forscher berichten von vielversprechenden Ergebnissen. Insgesamt seien die Ergebnisse zur Hirnstimulation jedoch gemischt, so Voderholzer. „Aktuelle Meta-Analysen und Übersichtsarbeiten zur tiefen Hirnstimulation haben gezeigt, dass sie bisher weltweit bei etwa 500 Zwangspatienten eingesetzt wurde“, berichtet der Psychiater. „Dabei hat etwa die Hälfte der Patienten von dem Eingriff profitiert und ihre Zwänge konnten auf ein erträgliches Maß gelindert werden.“
Auch bei der TMS legen Studien günstige Effekte auf die Zwangssymptome nahe. Voderholzer sieht die Methode jedoch kritisch. „Ein deutlicher Nachteil der TMS ist, dass sie nur in der Klinik, aber nicht im ambulanten Rahmen angewendet werden kann“, sagt der Experte. „Außerdem hält die Verbesserung der Zwangssymptome durch die Hirnstimulation meist nur kurze Zeit an und es ist fraglich, ob dadurch langfristige Verbesserungen erzielt werden können. Solange hier kein Nachweis über anhaltende Effekte vorliegt, sollten den Patienten keine unberechtigten Erwartungen vermittelt werden.“
Eine Chance, die Behandlung von Patienten mit leichten bis mittelschweren Zwangserkrankungen zu verbessern, sieht Voderholzer in internet- und smartphonebasierten Ansätzen. Diese bieten Patienten die Möglichkeit, auch über größere Entfernungen ohne direkte Treffen mit Therapeut behandelt zu werden. „Natürlich kann es hier verschiedene Abstufungen geben“, so der Psychiater. Der Patient kann etwa per Internet Informationen und Anleitungen zur Bewältigung der Zwänge erhalten. Ein solches Selbsthilfe-Programm kann auch mit regelmäßigen Rückmeldungen durch einen Therapeuten, zum Beispiel per E-Mail, kombiniert werden. Eine weitere Möglichkeit sind Videokonferenzen zwischen Therapeut und Patient über ein geschütztes System. Schließlich kann eine internetbasierte Therapie auch mit gelegentlichen Sitzungen in der Praxis des Therapeuten kombiniert werden.
„Bisherige Studien haben gezeigt, dass Selbsthilfe-Apps, in denen die Patienten Anleitungen für einen hilfreichen Umgang mit den Zwängen erhalten, hilfreich sind“, berichtet Voderholzer. „Das gilt insbesondere dann, wenn es im Hintergrund einen Therapeuten gibt, der die Patienten bei der Therapie begleitet und ihnen von Zeit zu Zeit hilfreiche Rückmeldungen gibt.“ Als bisher wirksamste Form der internetbasierten Therapie hat sich bisher bei verschiedenen psychischen Erkrankungen eine Therapie per Videokonferenz erwiesen, bei der Therapeut und Patient sich sehen und direkt miteinander sprechen können. „Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass diese Form der Therapie genauso wirksam ist wie eine Face-to-Face-Behandlung“, berichtet Voderholzer. „Erste Studien unserer Arbeitsgruppe legen nahe, dass dies auch bei Zwangsstörungen der Fall ist.“ Auf diese Weise kann zum Beispiel eine Exposition im natürlichen Umfeld des Patienten, etwa in seiner Wohnung, durchgeführt werden, was sonst in vielen Fällen nicht möglich ist – etwa, weil der Patient zu weit entfernt wohnt oder weil er wegen seiner Zwänge niemanden in seine Wohnung lässt. „Weniger geeignet sind rein internetbasierte Ansätze für Patienten mit schweren Zwangsstörungen“, so Voderholzer. „Hier ist eher eine intensive stationäre Behandlung in einer Fachklinik sinnvoll.“
Im Moment seien die Krankenkassen noch zurückhaltend mit der Kostenübernahme solcher Therapien, berichtet Voderholzer. „Einige Krankenkassen übernehmen die Kosten bereits, wenn zu Beginn der Therapie mindestens einmal ein persönlicher Kontakt zwischen Therapeut und Patient stattgefunden hat“, so der Experte. „Es sind jedoch mehr und größere Studien notwendig, um die Wirksamkeit von internetbasierten Therapie bei Zwangserkrankungen zu belegen.“
Bildquelle: Pineapple Supply Co./Unsplash