In der schwedischen Gynäkologie laufen die Dinge anders als in Deutschland. Die wichtigsten Unterschiede habe ich zusammengefasst.
Als Gynäkologin in Schweden tätig zu sein, ist in einigen Punkten anders als bei uns in Deutschland – besser? Darüber lässt sich bestimmt streiten. Doch um sich eine Meinung bilden zu können, muss man sich erstmal einen Überblick verschaffen.
Die Hierarchie innerhalb der medizinischen Berufsgruppen sowie berufsgruppen-übergreifend ist in Schweden extrem flach. „Den Ortswechsel darf man getrost als beruflichen Kulturschock bezeichnen“, sagt Kai Beckmann. Der deutsche Gynäkologe arbeitet seit mehr als fünf Jahren als Oberarzt an einem mittelgroßen schwedischen Krankenhaus. Die Arbeit aller Berufsgruppen, vom Reinigungsdienst bis zum Arzt, wird als gleichwertig angesehen. Man diskutiert alles miteinander und Beschlüsse, die eine ganze Abteilung betreffen, werden grundsätzlich mit allen Mitarbeitern besprochen. Führungsaufgaben liegen meist bei Gruppen, „Chefs“ ermöglichen den anderen Mitarbeitern ein reibungsloses Arbeiten und kümmern sich vorwiegend ums Administrative.
Schwedische Hebammen sind vielseitig medizinisch und sozial ausgebildet. Nach einer Zulassung als Pflegefachkraft bzw. Kinderpflegefachkraft schließt sich ein zweijähriges Hochschulstudium an und befähigt die fertig ausgebildete Hebamme, einen großen Verantwortungsbereich zu übernehmen: Sowohl ein unauffälliger Schwangerschaftsverlauf, als auch eine komplikationslose Spontangeburt wird ausschließlich von Hebammen betreut. Das betrifft auch einen Routineultraschall in der SSW 18+0 bis 20+0 SSW, alle Laboruntersuchungen und die Beratung über eine altersunabhängige Pränataldiagnostik für alle Schwangeren.
Auch die daran anschließende gynäkologische Betreuung, einschließlich Antikonzeptionsberatung und -verschreibung, Krebsfrüherkennungsuntersuchung und Beratung bei sozialen Problemstellungen, wird von Hebammen geleistet. Bei etwas mehr als 50 % der Schwangerschaften und Geburten findet kein Arztkontakt statt, dieser wird erst bei Pathologien hergestellt. An diesem Punkt des Vortrags kam es zum Spontanapplaus, vorwiegend der Hebammen.
Statistische Besonderheiten
In Schweden ist das Gesundheitssystem stark zentralisiert, was einerseits der Qualitätssicherung durch Fallzahlkonzentration dienen soll, andererseits dem großen, aber dünn besiedelten Land geschuldet ist. „Eine Schwangere fährt dann auch mal 150 km zur nächsten Entbindungsklinik“, so Beckmann. Es handelt sich um ein weitgehend verstaatlichtes Gesundheitssystem. Die Kosten für die Schwangerenvorsorge sind im Durchschnitt mehr als 20 % günstiger als in Deutschland. Die Sectio-Rate ist mit 17-18 % (Deutschland 30-33 %) niedriger, die Anzahl vaginal-operativer Entbindungen ist höher. Allerdings kommen Dammrisse 3. und 4. Grades fast dreimal so häufig vor.
Man nimmt an, dass das landesweite, staatliche Netzwerk „Aurora“ aus Hebammen, Ärzten, Psychologen und Sozialpädagogen vor allem für die niedrige Sectio-Rate verantwortlich ist. Dort werden Schwangere u.a. bei Ängsten im Zusammenhang mit der Geburt niederschwellig vorgestellt. Die Anzahl von Totgeburten nach SSW 22+0 ist in Schweden mit 4,5/100.000 Lebendgeburten etwas, aber statistisch nicht signifikant, niedriger als in Deutschland mit 5,0/100.00 Lebendgeburten. Es kommt also trotz der unterschiedlichen Schwangerenbetreuung in Schweden keinesfalls häufiger zu einem intrauterinen Fruchttod als in Deutschland.
Soziale Unterschiede
Es gibt in Schweden kein Mutterschutzgesetz und viele Schwangere arbeiten bis kurz vor der Entbindung. Es gibt ein Recht auf „Mutterzeit“ ab vier Wochen vor dem Entbindungstermin (Deutschland sechs Wochen vor Entbindungstermin). Bei Krankschreibung oder während der präpartalen „Mutterzeit“ wird eine Bruttoeinkommensfortzahlung von 85 % geleistet und es werden 280 Tage Elternzeit pro Elternteil und pro Kind gewährt. Schwedens gesamte Finanzierung des Gesundheitssystems wird über die Einkommenssteuer geregelt, es gibt keine privaten Krankenversicherungen. Die medizinischen Leistungen sind kostenlos, Arztbesuche werden aber zeitlich von der Arbeitszeit abgezogen.
„Schwangerschaft und Elternsein ist in Schweden kein Karrierehindernis“, so Beckmann. Daraus erklärt sich vielleicht auch das niedrigere Durchschnittsalter der (Erst-) Gebärenden in Schweden, was wiederum auf weniger Pathologien im Schwangerschaftsverlauf und unter der Geburt schließen lässt, insbesondere auch eine niedrigere Sectio-Rate.
„Es herrscht eine grundsätzlich andere Einstellung zu Schwangerschaft und Geburt in der Bevölkerung, mit sehr viel weniger Medizinalisierung und Pathologisierung in Schweden“, so Beckmann. Ganz zum Schluss fällt dann noch eine interessante Aussage: „In Schweden wird man als Mitarbeiter im Gesundheitswesen nicht verklagt. Es gibt so gut wie keine Gerichtsverfahren in Schadensfällen.“
Zusammenfassend
Mein persönliches Fazit
Das schwedische Gesundheitssystem hat viele interessante Ansätze und es lohnt sich, mögliche Übernahmen in unser System zu überdenken. Mir gefällt die grundsätzlich andere Einstellung zu Schwangerschaft und Geburt. Von ärztlicher Seite ist eine weniger pathologisierende Herangehensweise zu begrüßen. Letzteres sollte aber auch die Sichtweise mancher Patientinnen betreffen, wenn es beispielsweise um ein medizinisch nicht notwendiges, aber von der Schwangeren eingefordertes Beschäftigungsverbot geht, was leider im gynäkologischen Praxisalltag keine Seltenheit mehr ist. Der fehlende forensische Druck hat bei mir spontanen Applaus hervorgerufen und würde uns das Arbeiten auch hierzulande deutlich vereinfachen.
Der Artikel basiert auf einem Vortrag und den dazu zur Verfügung gestellten Unterlagen von Dr. Kai Beckmann, dem ich an dieser Stelle sehr herzlich dafür danken möchte. In einem sehr interessanten Vortrag hat er seine Erfahrungen auf einem Kongress in Karlsruhe Ende November geschildert. Es handelte sich um eine interprofessionelle Fortbildung für Hebammen und Gynäkologen.
Bildquelle: Luke Stackpoole, unsplash