„Es wäre doch eine Schildbürgerei sondergleichen, wenn Deutschland die Impfpflicht einführt, während gleichzeitig die dafür notwendigen Impfstoffe fehlen.“ Das sagt Dr. Ellen Lundershausen, eine Ärztin, der es in puncto Lieferengpässe langsam reicht.
Seit über 4 Jahren zeigen sich viele Arzneimittel und Impfstoffe in Deutschland über Wochen und Monate hinweg nicht lieferbar. Lieferengpässe gehen damit längst über gelegentliche Arzneimittelskandale aufgrund von gesundheitsschädlichen Nebenprodukten bei der Wirkstoffherstellung hinaus. Ob Augentropfen, Antazida, Antidepressiva, Schmerzmittel oder Blutdrucksenker – eine große Anzahl alltäglicher Therapeutika wird in zu geringer Menge produziert oder in besser bezahlenden Nachbarländer exportiert. Erst im Oktober schlugen Apothekerverbände und Ärzteschaft Alarm. Die Politik macht nun erste Lösungsvorschläge – doch aus Sicht des Apothekers Dr. Hermann Vogel schürfen die Pläne des Bundesgesundheitsministeriums allenfalls an der Oberfläche.
Im Oktober veröffentlichte der Bundesverband Deutscher Apothekerverbände (ABDA) ein Faktenblatt zu Lieferengpässen, das auf einen Missstand aufmerksam macht: Im Jahr 2017 erhielt jeder zweite Patient aufgrund eines Engpasses einen Arzneistoff oder eine Darreichungsform zweiter Wahl. In Kliniken waren davon sogar über 60 Prozent der Patienten betroffen. Über 281 Arzneimittel sind in Deutschland aktuell nicht lieferbar und über 17 Impfstoffe können nicht ausreichend hergestellt werden. Erst am 26. November teilte ABDA-Präsident Friedemann Schmidt hierzu eine Stellungnahme: „Die Lieferengpässe in den Apotheken nehmen immer größere Ausmaße an“. Problematisch seien aus Sicht deutscher Apotheken und Ärzte die möglichen Auswirkungen auf die Compliance der Patienten: „Wenn Patienten mit ständig wechselnden Präparaten konfrontiert oder auf einen anderen Wirkstoff umgestellt werden, führt das zu großer Verunsicherung und das kann das Therapieergebnis verschlechtern.“
Auch die Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, Dr. Ellen Lundershausen, zeigt sich äußerst besorgt. Sie sagte nach einem Treffen der Deutschen Akademie der Gebietsärzte im vergangenen September: „Lieferschwierigkeiten bei Arzneimitteln bedrohen zunehmend die Patientenversorgung“, und betonte: „Es wäre doch eine Schildbürgerei sondergleichen, wenn Deutschland die Impfpflicht einführt, während gleichzeitig die dafür notwendigen Impfstoffe fehlen“.
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) versprach nun, die Lieferengpässe ins Koalitionsprogramm aufzunehmen: Mehrere Gesetzesinitiativen sollen in nächster Zeit dafür sorgen, dass Arzneimittel wieder besser verfügbar werden. Dazu erklärte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in einer Pressemeldung vom 18. November: „Arzneimittelversorgung ist Grundversorgung. Hier muss Staat funktionieren.“ Zentral fordert der 5-Punkte-Plan des Bundesgesundheitsministeriums die Rückkehr zur Wirkstoffproduktion in Europa, statt wie bisher überwiegend in fernöstlichen Ländern - auch sollen mögliche Rabattausnahmen für Apotheker legitimiert werden, um im Bedarfsfall auf teurere Alternativen ausweichen zu können. Zusätzlich soll eine obligatorische Engpass-Meldepflicht der Hersteller an die Bundesoberbehörde eingeführt werden.
Diese Vorschläge hält Apotheker und ApoSync-Gründer Dr. Hermann Vogel junior wiederum für eine absolute Verkennung der Lage: „Das Vernetzen der Apotheken untereinander, um an Restbestände für unsere Patienten zu kommen, wird doch bereits täglich hochprofessionell praktiziert. Die Vorschläge des Bundesgesundheitsministeriums sind eine Farce, mit der die Politik nur unsere Kompetenz der Arzneimittelversorgung in Frage stellt, und bewirkt gar nichts.“ Das politische Handeln gleiche hingegen dem Verteilen von Eimern auf einer sinkenden Titanic. „Damit wäre das Schiff dennoch gesunken – diese Maßnahmen lösen nicht das Grundproblem, sondern kratzen an der Oberfläche“, argumentiert der Experte für Lieferengpässe, der im Jahr 2017 eigens eine kostenfreie App entwickelte, die stündlich über Lieferengpässe und Arzneimittelrückrufe per Push-App-Nachricht berichtet.
„Das Problem liegt weit tiefer als von der Politik angenommen begründet“, erklärt Dr. Vogel und verdeutlicht, dass die heutige Mangelwirtschaft so billig geworden sei, wie noch nie. Dass sich die Arzneimittelproduktion heutzutage nicht einmal mehr in fernöstlichen Ländern rentiere, sei eindeutig die Folge der Rabattverträge, sprich das Ergebnis eines jahrelangen Wettbewerbs um das preisgünstigste Arzneimittel. „Am Ende haben wir einen Monopolisten, der die Preise diktiert. Da aber die Kasse die Preise so niedrig festsetzt, produziert einfach keiner mehr oder in so schlechter Qualität, dass die Produkte nicht mehr unseren Qualitätssstandards genügen, wie im Valsartan-Fall im Jahr 2018“, konstatiert Vogel und ergänzt: „Genau diese Entwicklung bekommen unsere Patienten zu spüren – einmal bekommen wir etwas von bestimmten Firmen und auf einmal wieder nicht“, so der Apotheker.
Tatsächlich liegt die Mehrzahl der Lieferengpässe im Trend zur Globalisierung seit spätestens 2007 begründet. Dieser nimmt auch den Arzneimittelsektor nicht aus und führte dazu, dass zahlreiche deutsche und Arzneimittelhersteller Teilstrecken der Arzneimittelherstellung nach China, Südostasien oder in andere Ländern verlagert haben. Dies resultierte in Einsparungen bei den Produktionsbedingungen letztlich in unsicheren Arbeits- und Lieferbedingungen. Hinzu kommen der staatlich geforderte Kostendruck aufgrund von Rabattverträgen der Krankenkassen mit einzelnen Herstellern. Seit 2004 fungierten wenige, exklusive Hersteller als Rabattvertrags-Zulieferer – im Jahr 2015 erzielten gesetzliche Krankenkassen dadurch Rabattzahlungen der pharmazeutischen Hersteller von 3,5 Milliarden Euro. Außerdem entwickelt sich der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zufolge seit 2013 die Tendenz, dass Deutschland nicht mehr zu den bestzahlenden Ländern für europäische Parallelimporte zählt. Damit nimmt die Zahl der Exporte deutscher Arzneimittel ins Ausland zu.
Aktuell verzeichnet das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 281 offiziell gemeldete Arzneimittel-Lieferengpässe. Zwar sank die Zahl im Vorjahresvergleich um knapp 200 Präparate, doch ist die Mangelwirtschaft mit Arzneimitteln mittels oberflächlicher Gesetzesinitiativen nicht zu beheben. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) weist derzeit bereits 17 Engpässe bei gängigen Impfstoffen aus – darunter solche gegen Masern, Hepatitis B, Tollwut und Humane Papillomaviren. Beide Institutionen nehmen allerdings nur versorgungsrelevante Präparate auf, die über mehr als zwei Wochen als Engpass gemeldet sind. Experten vermuten aus diesem Grund, dass die Dunkelziffer derzeit schätzungsweise vielmehr bis zu 500 Präparate betrifft. Im Jahr 2018 waren insbesondere Schmerzmittel, Augentropfen, Blutdrucksenker, Antidepressiva und Säureblocker betroffen – auch eine größere Zahl krankenhausrelevanter Schmerzmittel, Antibiotika, Krebsarzneimittel, Adrenaline sowie das lebenswichtige Kreissaalhormon Oxytocin.
Oft wird im Praxis- und Apothekenalltag noch eine Alternative zweiter Wahl gefunden. Doch aus Sicht der Ärzte- und Apothekerschaft wird die derzeitige Lage auf den Rücken der Patienten ausgefochten. Auch Dr. Herrmann Vogel junior ist überzeugt, dass das Leid des einzelnen Patienten letztlich kaum messbar ist. „Das sind wirklich schlimme Einzelschicksale von Bluthochdruck- oder Psychopharmakon-Patienten und ich weigere mich, hier von Prozentzahlen zu sprechen. Wir Apotheker erfüllen hier nicht bloß Quoten, denn hinter jeder Entscheidung stecken Einzelschicksale“, betonte der Experte eindringlich im Namen seiner Patienten. Manche Betroffene seien optimal auf eine bestimmte Blutdrucktablette eingestellt und stünden unter Schock, wenn das Arzneimittel monatelang nicht verfügbar sei. Und manche Eltern erhielten für einen Impfstoff die Meldung, dieser sei nur über den Parallelhandel aus dem Ausland zu beziehen sei – mit zweifelhaftem Impferfolg. Damit führt das deutsche Gesunsheitssystem bereits seit einiger Zeit ein Schildbürgerdasein, das Therapieleitlinien und Qualitätsmanagement bei den Ärzten einfordert, wo Impf- und Wirkstoffe bei den Apothekern fehlen. Ein Zustand, der von den Standesorganisationen vor wenigen Wochen nicht von ungefähr als unhaltbar kritisiert wurde.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels haben wir das Zitat zu Beginn des Textes Herrn Dr. Vogel zugeordnet. Es stammt allerdings von Dr. Ellen Lundershausen.
Bildquelle: Billie Grace Ward, flickr