Bringen neue Pharmaka tatsächlich einen Mehrwert? Darüber streiten Kassen und Hersteller. Stein des Anstoßes ist wie so oft die frühe Nutzenbewertung. Ein weiterer Schwachpunkt: Innovationen kommen erst an, sollten generische Präparate verfügbar sein.
Herstellern auf den Zahn gefühlt: Führt jede Neuzulassung tatsächlich zu pharmazeutischem Fortschritt? Das verneint die Techniker Krankenkasse (TK) im Innovationsreport 2015. Versorgungsforscher nahmen Präparate des Jahres 2012 unter ihre Lupe und analysierten, wie sich der Markt entwickelte.
Wissenschaftler vergaben im Rahmen ihrer Analyse lediglich ein grünes Ampelsymbol, und zwar für Vemurafenib. Sie markierten Axitinib, Brentuximab Vedotin, Crizotinib, Ivacaftor, Pasireotid, Rilpivirin, Ruxolitinib, Tegafur/Gimeracil/Oteracil und Vandetanib mit gelber Farbe. Eine rote Karte erhielten Aclidiniumbromid, Aflibercept, Azilsartan Medoxomil, Ceftarolinfosamil, Dapagliflozin, Decitabin, Nomegestrolacetat/Estradiol, Perampanel und Pixantron. „Beim Marketing haben die Pharmahersteller ihre Hausaufgaben hingegen gemacht“, heißt es im Report. Trotz geringer Innovationskraft taucht mehr als jeder zweite Arzneistoff schon heute in Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften auf. Das hat System: Umfragen zufolge treffen 30 Prozent aller Ärzte ihre Entscheidung zur Verordnung neuer Arzneimittel am häufigsten aufgrund solcher Empfehlungen. Nur 15 Prozent berufen sich auf Resultate der frühen Nutzenbewertung.
„Die Innovationen fokussieren auf die falschen Bereiche. Forschung findet erkennbar nicht dort statt, wo sie benötigt wird“, sagte TK-Chef Dr. Jens Baas bei der Vorstellung des Berichts. „Statt neuer Antibiotika stehen hauptsächlich Indikationsgebiete im Fokus, bei denen die Pharmaindustrie die größte Rendite erwartet.“ Dazu gehören hochpreisige Wirkstoffe gegen verschiedene Tumoren. Pharmaka zur Therapie seltener Erkrankungen sieht Baas kritisch. Es liege im Interesse der Industrie, große Volkskrankheiten so umzudefinieren, dass Patientengruppen auf das Maß von seltenen Erkrankungen verkleinert würden. Dies sichere Herstellern einen relativ raschen Durchlauf durch das AMNOG-Verfahren und per Gesetz einen Zusatznutzen.
Henning Fahrenkamp, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI), zeichnet ein vollkommen anderes Bild: „Das AMNOG-Verfahren führt regelmäßig dazu, dass innovative Arzneimittel gerade in wichtigen Indikationen vom Markt genommen werden müssen. Leider können viele Innovationen gar nicht erst im Versorgungsalltag unter Beweis stellen, dass sie eine echte Verbesserung sind, denn sie fallen durch das starre Raster der frühen Nutzenbewertung.“ Wünschenswerte Effekte, etwa eine Lebensverlängerung, zeigen sich oft nach langjähriger Anwendung. Fahrenkamp: „Wir fordern, dass die AMNOG-Bewertungsmethodik an die Situation bei chronischen Erkrankungen angepasst wird, um den Zusatznutzen adäquat bewerten zu können, zum Beispiel durch die Akzeptanz von Surrogatparametern.“
Haben Wirkstoffe alle Hürden genommen, sitzen Generika-Hersteller schon in den Startlöchern. Im Auftrag des Europäischen Generikaverbands (EGA) untersuchte das IGES Institut jetzt, welche Bedeutung generische Pharmaka tatsächlich haben. Mit einem Marktanteil von 73 Prozent, gemessen an Packungszahlen, nimmt Deutschland im europäischen Vergleich den Spitzenplatz ein. Dahinter liegen Polen (69 Prozent), die Niederlande und Großbritannien (jeweils 66 Prozent). Am Ende der Skala rangieren Belgien (39 Prozent), Österreich (38 Prozent) und Griechenland (27 Prozent). Zwei Jahre nach Patentauslauf lag der Preisrückgang bei uns zwischen vier und 66 Prozent, abhängig vom Marktanteil generischer Wirkstoffe. Schätzungsweise drei Milliarden Euro konnten GKVen durch Rabattverträge in 2014 einsparen.
Davon profitieren nicht nur Versicherungen. Generika bremsen IGES-Forschern zufolge die Ausgaben bei gleichbleibend hohen Therapieraten. Im Report untersuchten sie neoadjuvante Behandlungsmöglichkeiten beim Mammakarzinom. Die generischen Aromatasehemmer Anastrozol, Exemestan und Letrozol erreichten zwei Jahre nach Markteinführung Anteile von bis zu 90 Prozent. Gleichzeitig verringerten sich Kosten pro QALY um 30 bis 90 Prozent, je nach Wirkstoff. Kein Einzelfall: Am Beispiel von Antihypertensiva zeigt die Arbeit, dass wesentlich mehr Patienten von generischen Arzneistoffen profitieren. Sobald Pharmaka patentfrei wurden, verordneten Ärzte entsprechende Präparate weitaus häufiger. Trotz dieses Mengeneffekts blieben die Kosten weitgehend unverändert. Das mag an extrem niedrigen Preisen liegen.
Generisches Amlodipin schlägt beispielsweise mit weniger als einem Cent pro Person und Tag zu Buche. Krankenkassen erstatten dem Hersteller für 100 Tabletten mit fünf Milligramm des Wirkstoffs 0,98 Euro, Apothekenzuschläge nicht mitgerechnet. Für pharmazeutische Firmen geht es nur noch um Preise, was zu einer starken Konzentration des Marktes geführt hat. Lieferengpässe treten häufig auf, falls es bei Lohnherstellern in Drittländern Probleme gibt. Aus Sicht von Pro Generika greifen staatliche Maßnahmen wie Register oder Mindestreserven zu kurz. Der Verband schlägt vor, essenzielle Wirkstoffe von Rabattverträgen auszunehmen.