Menschen mit Down-Syndrom erkranken seltener an soliden Tumoren als Menschen ohne überzähliges Chromosom 21. Forscher sind den zugrundeliegenden Mechanismen auf der Spur. Die Ergebnisse könnten das Tor zu neuen Krebstherapien öffnen.
Fast alle Zellen des menschlichen Körpers haben die Fähigkeit, schnell auf äußere Reize zu reagieren: Spezielle Rezeptoren auf der Zellmembran registrieren diese und wandeln sie in chemische Signale um. Über mehrstufige Reaktionsketten werden sie in den Zellkern weitergeleitet, wo sie die Expression von einem oder mehreren Genen anstoßen und so eine Antwort auf den Reiz auslösen. Meist ist eine Vielzahl von unterschiedlichen Molekülen an der Signalübertragung beteiligt. Wichtige biologische Prozesse wie beispielsweise Gentranskription, Lichtwahrnehmung oder Muskelkontraktion werden auf diese Weise gesteuert. Einer der bekanntesten dieser Mechanismen ist der Hedgehog-Signalweg, der insbesondere bei der Embryonalentwicklung eine wichtige Rolle spielt. Funktioniert dieser nicht richtig, kann es zu Fehlbildungen kommen.
Auch bei Menschen mit Down-Syndrom verdichten sich die Hinweise, dass dieser Signalweg nicht korrekt arbeitet und dafür verantwortlich ist, dass weniger Neuronen im Kleinhirn entstehen. Statt zwei besitzen die Erkrankten drei Kopien des Chromosoms 21, was dazu führt, dass die 231 Gene auf diesem überexprimiert werden. Das ruft nicht nur die charakteristischen Gesichtszüge der Betroffenen hervor, sondern verursacht auch kognitive Defizite, Herzerkrankungen und weitere gesundheitliche Probleme. Um herauszufinden, welchen Beitrag die einzelnen überexprimierten Gene zur Ausprägung des Down-Syndroms jeweils leisten und welche Signalwege daran beteiligt sind, haben Forscher mit gentechnischen Methoden Mäuse so verändert, dass diese ebenfalls eine zusätzliche Kopie der auf Chromosom 21 vorliegenden Gene besitzen. Diese Tiere zeigen in der Tat ähnliche Entwicklungsverzögerungen und Einschränkungen beim Lernen und in der Gedächtnisfunktion wie Menschen mit Down-Syndrom. Vor zwei Jahren gelang es US-amerikanischen Wissenschaftlern mithilfe eines spezifischen Wirkstoffs die Störung der Hirnentwicklung bei einem Down-Syndrom-Mausmodell zu verhindern. Die Substanz wirkt als Agonist, greift zielgerichtet in den Hedgehog-Signalweg ein und verstärkt dessen Wirkung. Die einmalige Injektion kurz nach der Geburt der Versuchstiere reichte aus, um die Effekte zu erzielen. Nicht nur ihr Kleinhirn entwickelte sich nahezu normal. Die Tiere schnitten auch in Gedächtnistests genauso gut ab wie normale Mäuse.
Auch wenn Menschen mit Down-Syndrom mit vielerlei Einschränkungen leben müssen, scheint das zusätzliche Chromosom sie jedoch vor soliden Tumoren zu schützen: Sie erkranken an den meisten dieser Krebsarten deutlich seltener als andere Menschen. 2009 schlug ein Forscherteam aus Boston einen möglichen Mechanismus für dieses Phänomen vor: Das auf Chromosom 21 sitzende Gen DSCR1 codiert für ein Protein, dass die Aktivität des Enzyms Calcineurin erniedrigt und wodurch kaum neue Blutgefäße gebildet werden. Die Konsequenz: Aufgrund der fehlenden Nährstoffversorgung stellen Tumorzellen ihr Wachstum ein. Wie die US-amerikanischen Forscher schon damals vermuteten, ist DSCR1 nicht der einzige Faktor, der das Voranschreiten von Krebserkrankungen verhindert. Deutsche Wissenschaftler um Matthias Lauth am Institut für Molekularbiologie und Tumorforschung der Universität Marburg haben einen molekularen Baustein des Hedgehog-Signalwegs aufgespürt, der vermutlich ebenfalls zum Schutz vor Krebs beiträgt. Lauth und sein Team untersuchten [Paywall] die Rolle des Gens DYRK1A. Es befindet sich ebenfalls auf Chromosom 21, kommt also beim Down-Syndrom in überzähligen Kopien vor. Das gleichnamige Genprodukt ist Teil des Hedgehog-Signalwegs und sorgt normalerweise dafür, dass der Transkriptionsfaktor GLI1 aktiviert wird. Dieses Molekül wiederum stößt die Expression von weiteren Genen an, die die Zellteilung und somit das Tumorwachstum vorantreiben.
Da DYRK1A bei Menschen mit Trisomie 21 aufgrund der zusätzlichen Genkopie überaktiviert ist, sollte der Hedgehog-Signalweg in seiner Wirkung verstärkt werden und das Krebsrisiko steigen. „Eigentlich müssten Down-Syndrom-Patienten viel mehr Tumoren bekommen, was jedoch nicht der Fall ist“, so Lauth. Er und seine Mitarbeiter vermuteten daher, dass DYRK1A auch in gegensinniger Richtung wirken könnte und so die vom Hedgehog-Signalweg angestoßene Zellteilung hemmt. Um weiteren Reaktionspartnern von DYRK1A auf die Schliche zu kommen, analysierten die Forscher die Wechselwirkung von DYRK1A mit 9.500 anderen Proteinen. Dabei entdeckten sie, dass unter anderem die Proteine ABLIM1 und ABLIM2 durch DYRK1A inaktiviert werden. Beide Proteine verstärken den Aufbau des Zytoskeletts. „Werden ABLIM1 und ABLIM2 durch DYRK1A inaktiviert, führt das zu einer Destabilisierung des Zytoskeletts“, erklärt Lauth. „Das hat zur Folge, dass das Signal des Hedgehog-Signalwegs nicht mehr effektiv zum Zellkern transportiert werden kann.“ Bei gesunden Menschen, so der Forscher, sei der hemmende Einfluss von DYRK1A eher von untergeordneter Bedeutung. Nur wenn die Konzentration des Proteins ansteige, wie es bei Menschen mit Down-Syndrom der Fall sei, komme seine schützende Rolle zum Tragen. Da der Hedgehog-Signalweg beim Fortschreiten von Krebserkrankungen eine wichtige Funktion hat, gelten seine molekularen Bestandteile als potenzielle Angriffsziele für eine medikamentöse Therapie.
Die Blockade von DYRK1A eignet sich Lauth zufolge allerdings weniger für einen solchen Behandlungsansatz: „Das Protein beeinflusst nicht nur den Hedgehog-Signalweg sondern auch andere Reaktionswege in der Zelle. Deren Hemmung hätte wahrscheinlich unerwünschte Nebenwirkungen zur Folge.“ Die Forscher setzen daher auf ein anderes Protein als Angriffsziel: JMJD1A ist ebenfalls Teil des Hedgehog-Signalwegs, lässt sich aber so steuern, dass es nur die Zellteilung aufhält. Hier erbrachte die Anwendung einer Substanz, die JMJD1A spezifisch blockiert, erste Erfolge: In Zellkultur-Versuchen mit verschiedenen Krebszellen [Paywall] ließ sich auf diese Weise der Signalweg unterbrechen und das Wachstum der Krebszellen verzögern. Doch noch, so Lauth, seien solche Wirkstoffe weit von einer Anwendung bei Krebspatienten entfernt. Sie müssten zuerst in einer Reihe von Experimenten weiter charakterisiert und optimiert werden, ehe man sie in klinischen Studien testen könne.