ADHS gibt es nicht. Mit dieser Aussage versetzt ein Kinderpsychologe Ärzte und Eltern in Aufruhr. Von anderer Seite heißt es hingegen: ADHS bleibt bei Erwachsenen zu häufig unerkannt. Wo also liegt die Wahrheit?
Jeder hat eine Meinung zu ADHS, dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom. Skeptiker sagen, ADHS sei nur das Ergebnis schlechter Erziehung. Oder: Lebhafte Kinder würden durch ADHS-Medikamente ruhig gestellt. Bei Erwachsenen sei ADHS zudem keine ernst zunehmende Diagnose. Was all diese Kritiker gemeinsam haben: Sie bezweifeln, dass es ADHS überhaupt gibt.
ADHS sei bloß eine Erfindung, erklärte Jerome Kagan, Kinderpsychologe der Harvard-University, in einem Interview. Darin vertritt er eine klare Meinung und sagt, dass die Erkrankung von Psychiatern und der Pharmaindustrie erfunden sei, um Geld zu machen. „Wie wäre es also mit Nachhilfe statt Pillen?“, lautet die provokante Antwort auf die Frage, ob es für verhaltensauffällige Kinder eine Alternative zu Psychopharmaka gebe.
Seine Aussagen überraschen, denn er hat selbst als Ko-Autor bei Studien zum Thema ADHS mitgewirkt. Darin bezweifelt niemand, dass ADHS existiert – so wie auch die meisten Wissenschaftler und Ärzte. Für sie ist die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung eine ernstzunehmende Erkrankung, die das Leben der Betroffenen unbehandelt stark beeinträchtigt. Das geht auch aus Studien hervor. „Die typischen Symptome Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität können auch bis ins Erwachsenenalter bestehen. Ein Kind kann damit aber anders beeinträchtigt sein als ein 30-Jähriger“, erklärt Dr. Bernhard Kis. Er ist Chefarzt in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des St. Elisabeth-Krankenhaus Niederwenigern.
„Das Kind kann in der Schule auffällig sein, weil es unaufmerksam ist und den Unterricht stört. Während des biologischen und sozialen Reifeprozesses kann der Betroffene aber lernen, damit umzugehen und fällt vielleicht nicht mehr durch Störungen auf. Doch die Probleme, welche durch Persistenz der ADHS begründet sind, verlagern sich im Rahmen der Transition in andere Lebensbereiche. Der Betroffene kann dann mit Misserfolgen bei der Arbeit, beim Studium und auch bei zwischenmenschlichen Beziehungen zu kämpfen haben.“
Laut einer Studie haben Patienten mit ADHS und psychiatrischen Begleiterkrankungen ein erhöhtes Sterberisiko durch Suizide, Unfälle und andere Verletzungen. „Viele ADHS-Patienten sind zudem suchtkrank, weil sie im Rahmen einer Selbstmedikation zu Drogen greifen“, sagt Kis. „Alkohol und Cannabis sind sehr beliebt, weil sie die innere Unruhe abschwächen. In Suchtkliniken ist ADHS tatsächlich relativ häufig“, ergänzt der Experte. Umso wichtiger sei es, möglichst früh therapeutisch einzugreifen.
Folgende Tatsachen lassen sich nicht wegdiskutieren: So haben Studien inzwischen zeigen können, dass im Gehirn von Betroffenen die Signalweiterleitung durch den Neurotransmitter Dopamin in Teilen des Frontallappens gestört ist. Dieser Bereich ist unter anderem für die Impulskontrolle und Aufmerksamkeit zuständig. Grund dafür sind vermutlich mehrere genetische Abweichungen, die die Neurophysiologie in bestimmten Regelkreisen des Gehirns beeinflusst.
Befasst man sich länger mit dem Thema und spricht mit verschiedenen Experten, wird klar: Nur wenige zweifeln wirklich daran, dass ADHS eine echte psychische Erkrankung ist. Wie lässt sich dann jemand wie Jerome Kagan dazu hinreißen, die Existenz einer solchen Erkrankung in Frage zu stellen?
Dr. Steven Novella, Neurologe von der Yale University School of Medicine kritisiert auf seinem Blog nicht nur Kagan selbst, sondern auch, wie man in den Medien mit Kagans Aussagen umgeht. Viele journalisitische Beiträge hätten es verpasst, Kagans Expertise in einen vernünftigen Zusammenhang zu stellen. „Kagan ist ein Psychologe. Er ist kein Psychiater und kein Neurowissenschaftler. Häufig haben verwandte Bereiche, die die gleiche Frage betreffen, unterschiedliche Meinungen“, schreibt er. Kagan spiegele nicht den Konsens wissenschaftlicher Meinung wieder, betont Novella.
„Warum angezweifelt wird, dass ADHS exisitert, liegt in meinen Augen daran, dass das Erkrankungsbild als solches noch relativ neu ist – gerade bei Erwachsenen“, meint Dr. Kis. „Erst seit 2011 sind Medikamente für die Behandlung Erwachsener überhaupt zugelassen. Früher wurde es noch nicht in der Uni gelehrt. Es braucht seine Zeit, bis ein neues Krankheitsbild auch beim Fachmann angekommen ist.“
Außerdem sei das Thema emotional stark besetzt. „Eltern sorgen sich um das Stigma einer psychischen Erkrankung. Dann heißt es: ‚Nur weil mein Kind unaufmerksam ist, ist es noch lange nicht krank.’ Das ist auch richtig, solange es nicht zu unüberwindbaren Problemen kommt.“ In dem Zusammenhang kann er aber auch ADHS-Kritiker verstehen. „Die Überdiagnose ist definitiv ein Problem bei Kindern. Das kann man auch an den Verordnungszahlen für entsprechende Medikamente sehen, denn die sind in den letzten Jahren massiv gestiegen.“ Da dürfe man auch mit seinen Fachkollegen kritisch sein und hinterfragen ob jede ADHS-Diagnose gerechtfertigt sei.
Die Diagnose ADHS darf laut der aktuellen S3-Leitlinie nur von Fachärzten wie Psychiatern oder Neurologen gestellt werden. Mit einem einzigen Besuch beim Arzt ist es aber nicht getan. Die Diagnose bei Kindern ist langwierig, denn die Abgrenzung zwischen normaler kindlicher Entwicklung und ADHS ist nicht leicht. Daher werden bei der Diagnose auch Eltern und Lehrer miteinbezogen. Entscheidend ist, dass die Symptome und die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen und über einen längeren Zeitraum auftreten – also nicht nur in der Schule.
Bei Erwachsenen ist die Diagnose noch komplizierter, sagt Dr. Kis. „Es ist nicht so, dass sich ein Patient mit eindeutigen Symptomen beim Hausarzt vorstellt. Oft haben die Patienten schon einen langen Leidensweg hinter sich. Dr. Kis spricht vom Zwiebelschalen-Prinzip: „Erwachsene mit ADHS finden sich aufgrund ihrer Erkrankung in ihrem Umfeld nicht zurecht, sie verlieren ihren Job, haben Probleme Beziehungen zu führen und so weiter. Dadurch leidet das Selbstwertgefühl und es kann sich eine Depression entwickeln. Die kann das eigentliche Problem verdecken – die ADHS.“ Das sei das schwierige bei der Diagnose. Die Erkrankung bleibt viel zu oft unerkannt, meint der Experte. Bei Kindern bestünde ADHS im Gegensatz dazu fast immer alleine.
„Der Patient wird dann wegen seiner vermeintlichen Depression behandelt. Doch man merkt, dass die Therapie nicht anschlägt. Dann sollte der Arzt auch andere Erkrankungen in Erwägung ziehen.“ Laut S3-Leitlinie basiert bei Erwachsenen die Beurteilung wie bei anderen psychischen Störungen überwiegend auf dem Ergebnis eines entsprechenden diagnostischen Interviews.
Jerome Kagan lässt sich von den Meinungen anderer nicht beirren. Für ihn ist ADHS eine Erfindung der modernen Psychiatrie, die der Pharmaindustrie in die Hände spielt. Was haltet ihr von der Diagnose ADHS?
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