Die einen sagen: Vitamin D sei bei der Vorbeugung von Migräne hilfreich. Andere sagen: ein Zusammenhang zwischen Migräne und Vitamin D sei unwahrscheinlich. Die Studienlage ist widersprüchlich. Wie positioniert sich die neue Leitlinie zu Nahrungsergänzungsmitteln?
Einige Experten sind überzeugt: Vitamine und Mineralstoffe sind bei der Vorbeugung von Migräne hilfreich. Andere sind demgegenüber skeptisch. Zwar ist die Wirkung solcher Substanzen bisher nicht vergleichbar gut belegt wie die von Migränemedikamenten, doch eine Reihe von Studien legt nahe, dass Vitamine und andere Vitalstoffe dazu beitragen könnten, die Schwere und die Anzahl der Migräneanfälle zu verringern. Migräne ist eine sehr häufige neurologische Erkrankung. Weltweit sind etwa zehn Prozent der Menschen davon betroffen. In Deutschland leiden zehn bis 25 Prozent der Frauen und acht bis zehn Prozent der Männer an den Kopfschmerzattacken. Migräne kann die Lebensqualität stark beeinträchtigen. Während der Attacken erleben die Betroffenen neben heftigen Kopfschmerzen oft auch Übelkeit, Erbrechen und eine erhöhte Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Eine repräsentative Befragung der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft zeigt: Möglichkeiten zur Prophylaxe nutzen Erkrankte wenig – und viele kennen diese nicht einmal. Nur 43 Prozent werden von ihrem Hausarzt oder Internisten und nur 57 Prozent von ihrem Facharzt über vorbeugende Maßnahmen beraten. In puncto Beratung herrscht offensichtlich Handlungsbedarf. Aber wozu sollen Ärzte Migränepatienten raten?
Im April haben die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) eine neue Leitlinie zur Behandlung der Migräne veröffentlicht. Sie gewichtet eine Reihe von medikamentösen, nichtmedikamentösen und interventionellen Verfahren, die sich bei der Behandlung und Vorbeugung von Migräneattacken als wirksam erwiesen haben.
Laut Leitlinie der DGN und DMKG konnten kleinere Studien eine Wirksamkeit von Coenzym Q10 und hochdosiertem Vitamin B2 bei der Vorbeugung der Migräne zeigen. Eine Kombination aus Coenzym Q10, Magnesium und Vitamin B2 trug in einer deutschen Studie mit 130 erwachsenen Migränepatienten dazu bei, die Schwere, nicht aber die Häufigkeit der Migräneanfälle zu reduzieren. Auch eine aktuelle Review, bei der eine Reihe von Studien zusammenfassend ausgewertet wurde, liefert Hinweise, dass die Gabe von Magnesium, Vitamin B2, B3 und B12, Coenzym Q10, Carnitin und Vitamin D zur Vorbeugung von Migräneattacken beitragen kann. Diese konnten die Schwere der Kopfschmerzen sowie in einigen Studien auch die Häufigkeit der Migräneattacken reduzieren. Die Probanden nahmen die Vitamine und Mineralien meist als Nahrungsergängungsmittel ein, in einigen Studien wurden Magnesium und Vitamin B3 auch intravenös verabreicht.
Präparate, die eine Kombination aus Coenzym Q10, Magnesium und Vitamin B2 enthalten, sind in Deutschland als diätetisches Lebensmittel zur Vorbeugung von Migräne erhältlich. Diese Kombination reduziert laut einer Studie ebenfalls die Schwere, allerdings nicht die Häufigkeit von Migräneattacken. Die Leitlinie informiert über den aktuellen Stand der Forschung in diesem Bereich, spricht allerdings keine explizite Empfehlung für Patienten aus, diese Vitamine und Mineralstoffe zur Prophylaxe einzunehmen.
Vitaminmangel als Migräneauslöser Woran machen Befüworter, die an einen Zusammenhang zwischen Vitaminmangel und Migräneattacken glauben, ihre Vermutung fest? „Ein [...] Vitaminmangel könnte mit den Krankheitsmechanismen zusammenhängen, die bei Migräne eine Rolle spielen“, schreiben Suzanne Hagler und ihre Kollegen vom Cincinatti Children's Hospital Medical Center (USA). Ihre Untersuchung (Abstract PF77) aus dem Jahr 2016 mit 7.691 Kindern und Jugendlichen mit Migräne ergab, dass diese häufig unter einem Vitaminmangel litten. Das war insbesondere für Vitamin D, Vitamin B2, Folsäure und Coenzym Q10 der Fall. Dagegen sind die meisten Menschen, etwa in Deutschland, nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) ausreichend mit Vitaminen versorgt. Eine Ausnahme ist Vitamin D: Laut Robert Koch-Institut haben etwa zwei Prozent der Erwachsenen und etwa vier Prozent der Kinder in Deutschland einen deutlichen Vitamin-D-Mangel. Ein Vitaminmangel könnte dazu beitragen, dass die individuellen Auslöser für Migräneattacken – wie bestimmte Lebensmittel, Licht, Schlafmangel oder Stress – mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einem Migräneanfall führen. So sind Coenzym Q10, Vitamin B2 und Magnesium am Energiestoffwechsel der Zellen beteiligt. Experten diskutieren darüber, ob ein Mangel dieser Substanzen zu einer Fehlfunktion der Mitochondrien führen könnte. Dies könnte die Entstehung eines Migräneanfalls begünstigen. Bei vielen Prozessen, die zu einer Migräneattacke führen können, spielt zudem Magnesium eine Rolle. Es wird angenommen, dass eine erhöhte Erregbarkeit der Nervenzellen und eine starke Erweiterung der Blutgefäße zuMigräneattacken beitragen. Hier kann Magnesium gegenarbeiten, denn es bewirkt, dass Gefäßwände sich wieder entspannen und die Erregbarkeit der Nervenzellen sich verringert. Bei einem Magnesiummangel bleibt dieser Effekt aus.
Vitamin D wiederum gilt als entzündungshemmend. Manche Mediziner glauben deshalb, es könnte bei Erkrankungen hilfreich sein, die mit Entzündungen im Zusammenhang stehen. Auch bei der Entstehung bzw. beim Verlauf der Migräneattacken wird davon ausgegangen, dass entzündliche Prozesse im Gehirn eine Rolle spielen. Darüber hinaus legen Studien nahe, dass Vitamin D die Aufnahme von Medikamenten verbessern könnte. Auf diese Weise könnte das Vitamin in Kombination mit einer medikamentösen Therapie dazu beitragen, die Häufigkeit und Schwere der Migränesymptome verringern. Die Studienlage dazu ist widersprüchlich: In einigen Studien wurde ein Zusammenhang zwischen chronischen Spannungskopfschmerzen bzw. Migräne und einem Mangel an Vitamin D beobachtet. Andere Studien konnten keinen Zusammenhang nachweisen. In einer Untersuchung türkischer Forscher erhielten 53 Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 16 Jahren entweder nur ein Medikament gegen die Migräne (Amitriptylin) oder eine Kombination aus Amitriptylin und Vitamin D. Dabei erhielten Kinder mit einem Vitamin-D-Mangel höhere Vitamin-D-Dosen als Kinder, die keinen Vitamin-D-Mangel hatten: Kinder ohne Vitamin-D-Mangel erhielten 400 internationale Einheiten (IE) pro Tag, Kinder mit leichtem Vitamin-D-Mangel 800 IE pro Tag und Kinder mit schwerem Vitamin-D-Mangel 5000 IE pro Tag. Vor der Behandlung hatten die Kinder in allen Gruppen in etwa gleich viele Migräneattacken, nämlich durchschnittlich 7 Attacken in 6 Monaten. Bei einer Kombination aus Amytriptylin und Vitamin D war die Zahl der Migräneattacken im Behandlungszeitraum signifikant geringer als in der Kontrollgruppe – und zwar sowohl bei Kindern mit als auch ohne Vitamin-D-Mangel. So hatten die Kinder der Kontrollgruppe, die nur Amitriptylin erhielten, im sechmonatigen Behandlungszeitraum durchschnittlich 3 Migräneattacken, Kinder ohne Vitamin-D-Mangel, die Amitriptylin und Vitamin D erhielten, durchschnittlich 1,76 Attacken, Kinder mit leichtem Vitamin-D-Mangel (Amitriptylin plus Vitamin D) 2,14 und Kinder mit schwerem Vitamin-D-Mangel (Amitriptylin plus Vitamin D) 1,15 Attacken. Die Autoren schließen daraus, dass eine Zusatzversorgung mit Vitamin D hilfreich sein könnte, um die Häufigkeit und die Schwere von Migräneattacken zu verringern. Allerdings ist die Aussagekraft der türkischen Studie aufgrund der kleinen Kohorte wohl als eher begrenzt einzustufen. Bislang ist noch nicht nachgewiesen, ob die Gabe von Vitamin D nur bei einem Mangel hilfreich sein könnte oder eine zusätzliche Einnahme trotz normalem Vitamin-D-Spiegel etwas bringt. Die Ergebnisse einer anderen Studie mit 76 Migränepatienten deutet darauf hin, dass die Wirkung von Vitamin D nicht direkt mit einem Vitamin-D-Mangel bzw. mit der Höhe des Vitamin-D-Spiegels zusammenhängt. Es konnte kein Zusammenhang zwischen dem Serum-Level an Vitamin D (Vitamin-D-Mangel, leichter Vitamin-D-Mangel oder kein Vitamin-D-Mangel) und der Schwere der Migräne gefunden werden.
Warum sich Forscher für die Wirkung von Vitaminen im Zusammenhang mit Migräne interessieren, liegt auf der Hand: Das Risiko für Nebenwirkungen hält sich in Grenzen. „Medikamente zur Behandlung und Vorbeugung der Migräne können Nebenwirkungen haben“, so Elyas Nattagh-Eshtivani und sein Team von der Universität für Medizinwissenschaften Tabriz im Iran, die sich mit der Wirksamkeit von Vitamin D bei Migräne beschäftigen. „Daher empfehlen einige Experten die Gabe von Vitaminen und Mineralstoffen als Nahrungsergänzungsmittel – allein oder in Kombination mit anderen Behandlungsmethoden.“ Hans-Christoph Diener, Professor für klinische Neurowissenschaften an der Universitätsklinik Essen, hält einen Zusammenhang zwischen Migräne und Vitamin D für eher unwahrscheinlich. „In größeren Meta-Analysen, etwa zu verschiedenen Schmerzarten, konnte bisher kein Zusammenhang zwischen einem Vitamin-D-Mangel und Migräne oder zwischen der Gabe von Vitamin D und einer Verminderung der Migräne-Attacken nachgewiesen werden“, sagt der Experte. „Es sind in jedem Fall weitere Studien notwendig, um die Wirksamkeit dieser Substanzen, insbesondere von Vitamin D, zur Vorbeugung der Migräne zu belegen“, betonen die Forscher um Nattagh-Eshtivani.
Die neue Leitlinie empfiehlt zur Vorbeugung von Migräneattacken Ausdauersport, Verhaltensänderungen zum Abbau von Stress und verhaltenstherapeutische Methoden wie Entspannungsverfahren. „Regelmäßiger Ausdauersport hilft, Migräneattacken vorzubeugen. Auch Entspannungsverfahren und Stressmanagement haben sich in der Prophylaxe als wirksam erwiesen“, erläutert Peter Kropp, Autor der Leitlinie und Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Rostock. Um den optimalen Umgang mit Migräne zu finden, müssen Patienten über alle Behandlungsmöglichkeiten, die es gibt, informiert werden – auch über die nicht-medikamentösen. Das dürfen Ärzte im Berufsalltag nicht vergessen.