Wissenschaftler haben eine neue Unterform von Muskelstammzellen entdeckt. Mit ihrer Fähigkeit, neue Muskeln zu bilden und zu regenerieren, sind diese Zellen auch für die Entwicklung von Gentherapien interessant.
Bislang nahmen viele Wissenschaftler an, dass ein bestimmtes Protein wichtig ist, damit sich Muskeln selbst erneuern können: der Transkriptionsfaktor PAX7. „Zellen, aus denen neue Muskeln entstehen können, bergen ein enormes Potenzial für die Entwicklung von Gentherapien bei Muskelschwund. Und PAX7 gilt eigentlich als charakteristisches Merkmal für muskelbildende Satellitenzellen“, sagt Professorin Simone Spuler.
Die Wissenschaftlerin und Ärztin ist Arbeitsgruppenleiterin am Experimental and Clinical Research Center (ECRC). Ihr Team berichtet nun in der Fachzeitschrift „Nature Communications“, dass Muskeln aus Satellitenzellen auch ohne PAX7 entstehen und regenerieren können. Die Studie charakterisiert einen bislang unbekannten Subtypen an Satellitenzellen, der zukünftig bei der Entwicklung von Gentherapien aus Muskelstammzellen berücksichtigt werden sollte.
Dr. Andreas Marg, leitender Wissenschaftler in Spulers Arbeitsgruppe und Erstautor der Studie sagt, für viele Forscherinnen und Forscher in seinem Bereich sei das Ergebnis sicherlich überraschend. Auch er selbst habe sich anfangs von der Annahme leiten lassen, der Transkriptionsfaktor sei entscheidend für die Muskelbildung. „Zuvor habe ich mich in meiner Forschung gezielt auf PAX7-positive Zellen konzentriert. Mit unseren Ergebnissen verlassen wir nun ausgetretene Pfade.“
Zu den Ergebnissen konnten die Forscher gelangen, weil sie eng mit einem Mädchen zusammen gearbeitet haben: Lavin leidet seit ihrer Geburt an einer erblichen Muskeldystrophie und ist die Protagonistin in der Studie. In Lavins Körper ist zwar jeder einzelne Muskel angelegt, jedoch nur sehr klein ausgeprägt. Besonders die Muskulatur entlang der Wirbelsäule ist betroffen. Arme und Beine sind zwar kräftig, aber das Kind leidet an Atemschwäche und hat Schwierigkeiten, sich vornüber zu beugen und den Kopf gerade zu halten.
Genanalysen zeigen, dass bei Lavin das Gen für PAX7 zerstört ist, ihre Zellen können dieses Protein nicht herstellen. Dies fand bereits 2017 das Universitätsklinikum in München heraus. Bald darauf wurden Spuler und Marg auf diese extrem seltene Mutation aufmerksam, die zuvor noch nicht beschrieben wurde.
Lavin fuhr mit ihren Eltern nach Berlin zum Campus Buch, wo ihr die Wissenschaftler Muskelgewebe entnahmen. Aus diesen Zellen sortierte Marg mit einem neu entwickelten Verfahren Lavins Satellitenzellen aus und pflanzte sie daraufhin Mäusen ein. Dabei stellte er fest, dass im Körper der Maus tatsächlich aus Lavins Zellen neue Muskelfasern entstanden sind – und das ganz ohne PAX7.
Spuler vermutet, dass PAX7 nicht für jede Zelle gleich wichtig ist. Dies würde erklären, warum Lavin zwar verhältnismäßig gut laufen und klettern kann, aber kaum Muskelkraft im Zwerchfall hat, was die Atemprobleme auslöst. „Mithilfe der Genschere CRISPR/Cas könnten wir vielleicht eine Gentherapie für Lavin entwickeln", sagt Spuler.
Um das defekte Gen zu reparieren, müsse die Genschere jedoch gezielt in den Zellen der axialen Muskulatur angewendet werden. Das ist bislang noch nicht möglich. Aber an der Reparatur von defekten Genen in Muskelzellen arbeitet die Arbeitsgruppe bereits sehr intensiv. Für Lavin und ihre Familie ist die Forschung in der AG Spuler ein kleiner Hoffnungsschimmer für eine geeignete Therapie.
Marg und Spuler arbeiteten für die Studie mit vielen Kollegen am MDC und aus dem Ausland zusammen. In der Arbeitsgruppe von Professor Nikolaus Rajewsky am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) verglich das Team Lavins Zellen mit gespendeten Zellen von gesunden Menschen.
Mit einer Einzelzellanalyse, die die Aktivität jeder Zelle individuell betrachtet, stießen die Forschenden so auf eine bislang unbekannte Zellpopulation: Bei etwa 20 Prozent der Spender produziert die Mehrheit der aktivierten Satellitenzellen ebenfalls kein PAX7, obwohl die genetische Information in den Zellen vorhanden wäre. Stattdessen wies das Team in jenen Zellen, denen der Transkriptionsfaktor fehlt, etwas anderes nach: CLEC14A – ein Protein, dass in vielen Zellen der Blutgefäße vorkommt. Genau dieses Protein war bei Lavins Muskelstammzellen besonders stark ausgeprägt.
Die neue Studie präsentiert eine bisher unbekannte Unterform von Satellitenzellen:
Für Gentherapieforschung mit Satellitenzellen wurden bislang nur Zellen mit PAX7 berücksichtigt. Die neue Studie zeigt jetzt, dass auch der entdeckte Subtyp für die Entwicklung von Therapien in Frage kommt.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin.
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