Ein Patient stellt sich mit Schlafstörungen beim Hausarzt vor. Er ist seltsam gekleidet und benimmt sich eigenartig. Dann eskaliert die Situation.
Ein neuer Patient betritt das Behandlungszimmer von Hausarzt Dr. Winter – der Letzte, bevor der Arzt seine Praxis für die Feiertage dicht macht. Der ältere Herr macht einen merkwürdigen ersten Eindruck: Für die Temperaturen draußen ist er völlig unpassend gekleidet. Klar, es ist Dezember. Aber lange nicht so kalt, dass man Pelzmütze und dicke Schneestiefel tragen müsste. Außerdem schleppt er eine übergroße Tasche mit sich, mit der er sich ziemlich abmühen muss.
Nachdem er sie neben sich abgestellt hat, reicht er Dr. Winter zur Begrüßung eine behandschuhte Hand. Offensichtlich sieht der Patient den irritierten Gesichtsausdruck des Hausarztes. „Das muss ich tragen“, sagt er leise und lacht nervös. Was er denn beruflich mache, fragt Dr. Winter. Mit einem kurz angebundenen „Botendienst“ als Antwort lässt sich der Herr schwer atmend in den Sitz fallen. Er ist stark übergewichtig, Risikopatient für Hypertonie und Diabetes. Wahrscheinlich ist er deswegen hier, denkt sich der Arzt und stellt sich innerlich schon auf eine Lebensstilberatung ein: Mehr Bewegung, ausgewogener essen, weniger Alkohol. Dass ihm über seiner beeindruckenden Gesichtsbehaarung ein dunkelrotes Gesicht entgegenleuchtet, bestärkt ihn in seinem Verdacht. „Und was führt sie heute zu mir?“, fragt er.
Er fühle sich äußerst gestresst und könne vor lauter Grübeln nicht mehr schlafen. Was den Arzt stutzen lässt: Die Beschwerden würden jedes Jahr zur gleichen Zeit auftreten. Sonst habe er diese Probleme nie. Nein, Vorerkrankungen habe er nicht und nein, Medikamente nehme er auch nicht ein. Der Patient zupft nervös an seinem Bart und schaut im Behandlungszimmer umher. Etwas scheint ihn zu bedrücken. Dr. Winter versucht, möglichst einfühlsam vorzugehen. „Sie dürfen mir alles erzählen. Nur dann kann ich Ihnen schließlich helfen.“ Der Schweiß steht dem Patienten inzwischen auf der Stirn. Seine Hände zittern in den dicken Handschuhen. Wie er da so sitzt, erinnert er an jemanden auf Entzug.
Ohne Vorwarnung scheint die Situation zu eskalieren. „Ich kann nicht anders“, platzt es plötzlich aus dem Patienten heraus. Wieder ein nervöses Lachen. Dr. Winter ahnt schlimmes. „Das ganze Jahr über kann ich mich zurückhalten“, sagt der ältere Herr verzweifelt, „aber sobald der Dezember kommt, muss ich es einfach tun.“ Mit diesen Worten greift er hastig in seine riesige Tasche. Der Arzt weicht instinktiv zurück. Hat er es mit einem psychisch labilen Patienten zu tun? Ist er gefährlich?
Doch mit dem, was der Herr aus seiner Tasche hervorholt, hat Dr. Winter nicht gerechnet. Der Patient reicht ihm ein kleines, in Geschenkpapier eingewickeltes Paket. Auf dem Anhänger steht: „Frohe Weihnachten!“
Sichtlich erleichtert steht der ältere Herr auf. „Jetzt geht es mir schon viel besser!“, sagt er, schwingt seine schwere Tasche über die Schulter und verlässt eilig das Behandlungszimmer. Dr. Winter ist sprachlos. Noch während er sich sammelt, ertönt im Flur wieder das Lachen des Patienten. Diesmal lauter und deutlicher: „Ho, ho, ho!“
Die Diagnose von Dr. Winter: Doromanie – sein neuer Patient ist süchtig danach, zu schenken. Ob er nächstes Jahr wieder kommt?
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