MEIN KNIFFLIGSTER FALL | Das Mädchen hat Bauchschmerzen. Es verhält sich ungewöhnlich. Appendizitis, heißt es in der Klinik. Reine Routine. Doch es kommt anders.
In einer kleinen Siedlung kommt ein Kind aus der Schule zurück. Es sieht einen Graben, der an diesem Morgen noch gar nicht da war. Es überlegt: Soll ich einen Umweg machen oder rüberspringen? Es wirft seinen Ranzen voraus, nimmt Anlauf und springt. Falsche Entscheidung. Es fehlen zehn Zentimeter, das Kind landet auf dem Bauch auf dem gegenüberliegenden Rand des Grabens. Der Bauch tut etwas weh. Das Kind kommt nach Hause, sagt nichts.
Das Kind ist unsere Tochter.
Samstag. Wir haben ein freies Wochenende. Unsere Tochter verhält sich ungewöhnlich. Sie zieht sich zurück, hat keine Lust, zu spielen. Sie sagt, sie sei müde. Legt sich hin mit angewinkelten Beinen, will nichts essen, sie habe Bauchschmerzen. Stress in der Schule? Sie verneint. Noch in der Nacht verstärken sich die Bauchschmerzen. Wir untersuchen sie; Symptome wie bei einer Appendizitis. Wir bringen sie ins Krankenhaus, wo meine Frau arbeitet. Ein Chirurg untersucht sie, Blutentnahme.
„Wir werden sie beobachten“, sagt er mitfühlend. Ich fahre zurück mit unserem kleinen Sohn nach Hause, meine Frau bleibt bei ihr. „Mach dir keine Sorgen, sieht nach einer gemeinen Blinddarmentzündung aus, sie wird operiert – reine Routine“, tröste ich sie zum Abschied.
Am Nachmittag wird sie operiert. „Eine leichte Blinddarmentzündung, subakut“, sagt der Chirurg. Nicht ganz überzeugend. Ich kenne den Ausdruck, keine Blinddarmentzündung. Meine Frau kommt spätabends nach Hause. „Ihr geht’s nicht besser“, sagt sie. Wir können kaum schlafen, wir umarmen uns fest in unserem Bett, der kleine Sohn kommt dazu und tröstet uns. Die Nacht schlafen wir alle zusammen.
Ich fahre zur Arbeit. Bei der Morgenbesprechung bin ich abwesend. Was interessiert mich die Welt da draußen? Alles versinkt in Bedeutungslosigkeit. Mein Chef fragt mich, was mit mir los ist. Ich erzähle und kann meine Tränen nicht halten. Er zeigt seine menschliche Seite. „Gehen Sie nach Hause und kommen Sie, sobald Sie können“, sagt er verständnisvoll.
Ich fahre zu meiner Tochter. Sie liegt weiter apathisch im Bett, die Chirurgen gehen uns aus dem Weg. Laborwerte kommen. Sie zeigen eine akute Bauchspeicheldrüsenentzündung. Ein Pfleger sagt, sie erzählte, sie wäre in einen Graben gefallen. Die Oberärztin der Inneren macht eine Ultraschalluntersuchung. Sie sieht nichts Verdächtiges, ist sich aber nicht sicher.
Mein Gott, denke ich, warum hat sie uns nichts gesagt? Man fährt sie in ein anderes Krankenhaus zur Computertomographie. Diagnose: Posttraumatische Pankreatitis mit Bildung einer Pankreaszyste. Sie wird auf die Kinderintensivstation verlegt. Die Bauchspeicheldrüsenenzyme, wenn sie außerhalb der Drüse und des Pankreasganges gelangen, sind in der Lage, die ganze Drüse inklusiv Nachbargewebe zu verdauen. Ich will mit einem Kinderchirurg sprechen, der sich mit der Problematik auskennt.
Ich rufe die Uniklinik Düsseldorf an. Dort hätten sie keine Erfahrung, ich bekomme eine Telefonnummer eines Professors einer anderen Uniklinik. Der scheint kompetent zu sein. „Lassen Sie nichts tun, Herr Kollege“, sagt er. „Bloß keine Operationen, nur künstliche Ernährung und Kontrolle der Zyste. Höchstens eine Punktion unter Ultraschallkontrolle, wenn sie zu groß werden sollte. Verlassen Sie sich auf die natürlichen Heilkräfte, hier helfen keine Interventionen.“ Ich stelle mir alles vor, was auf einer Intensivstation schiefgehen könnte. Ich sehe die Bilder von intubierten und beatmeten Kindern vor mir, all die Komplikationen, die ich gesehen hatte und noch nicht sah, aber darüber las. Grauenhaft. Die folgenden Tage erleben wir wie in Trance.
Vier Tage sind vorbei. Es geht ihr besser, es ist erlaubt, ihr eine Portion Quark zu essen zu geben. Sie hat ihn nie gemocht. Sie verspeist ihn hastig in wenigen Minuten. Ein gutes Zeichen. Nach einer weiteren Woche ist sie wieder zu Hause.
Dieser Beitrag ist von Sylwester Minko, Arzt und Autor. Mit dieser Kasuistik hat er an unserem DocCheck-Wettbewerb Mein kniffligster Fall teilgenommen. Weitere Patientenfälle werden in den nächsten Wochen in unserem Newsletter und auf diesem Kanal veröffentlicht.
Bildquelle: Free-Photos, pixabay