Die Digitalisierung gilt 2020 als vielbeschworener Innovationstreiber schlechthin und steht auch im Gesundheitsbereich im Fokus von Service-Anbietern, Anwendern und Investoren: Wie verändert sich durch medizinische Online-Netzwerke und -Plattformen das Wissensmanagement der Heilberufler? Welche Vorteile bieten digitale Kommunikationslösungen im Expertenaustausch oder bei der Arzt-Patientenkommunikation? Welche Chancen bieten sich in der Patientenversorgung durch Gesundheits-Apps und digitale Therapien?
Als Online-Community mit internetbasierten Dienstleistungen steckt DocCheck mittendrin in dieser "digitalen Transformation" - entsprechend regelmäßig führen wir in diesem Kontext Studien zum Thema durch.
Die Ergebnisse unserer jüngsten Eigenstudien weckten unsere besondere Aufmerksamkeit, denn sie brachten einige überraschende Erkenntnisse hervor:
Recherche online, Gespräche offline
So zeigte unsere Deep Dive Internetnutzung 2019 mit n = 503 Befragten (zufällig ausgewählte Ärzte, Apotheker und PTAs aus dem DocCheck Panel): Heilberufler nutzen das Internet für das persönliche, berufsbezogene Wissensmanagement so intensiv wie nie zuvor, auf den unterschiedlichsten Endgeräten, häufig auch mobil und unterwegs.
Allerdings zeigen sie nach wie vor wenig Interesse, sich online auszutauschen: Kaum einer stellt eigene Inhalte oder Beobachtungen in medizinische Netzwerke ein. Die Möglichkeit zur Diskussion und Bewertung von Beiträgen in den verschiedenen Heilberufler-Netzwerken wie DocCheck, esanum, PTA-Digital & Co., die den Usern über die Kommentarfunktion angeboten wird, wird nur von einer Minderheit der Befragten genutzt, die Mehrheit bleibt lieber passiv. Auf die Frage, warum sie im Rahmen von Onlinebeiträgen nicht aktiv werden, antworten sie in großer Zahl, dafür hätten sie keine Zeit (43 Prozent), sehen keine Relevanz (33 Prozent). Viele sind vom geringen Niveau der Online-Debatten eher genervt und bleiben aufgrund „der unqualifizierten, unsachlichen Reaktion von anderen auf Kommentare“ lieber auf Distanz. Ein fachlich anregender Austausch kommt der Mehrheit der Befragten zufolge im Internet kaum zu Stande. Auch die Sorge um den Datenschutz und mangelndes Vertrauen in digitale Onlineplattformen spielen eine Rolle. Also treffen sie sich lieber auf Kongressen oder Symposien und tauschen sich dort in vertrauter Runde zu den für sie wichtigen Themen aus - durchaus auch über Themen, die sie online gelesen und recherchiert haben.
Die Chancen die in einem digitalen Expertenaustausch liegen - nämlich unkompliziert, effizient sowie interdisziplinär in Echtzeit gemeinsame Erfahrungen zu teilen und sich damit up-to-date zu halten - werden demnach noch längst nicht ausgeschöpft.
Noch deutlicher wurde bei der Befragung im Sommer 2019 das verbreitete Fremdeln mit den digitalen Möglichkeiten für Mediziner im Kontext der digitalbasierten medizinischen Versorgung und dem Einsatz von digitalen Therapien (DTx): Gerade einmal jeder fünfte Allgemeinmediziner sagte von sich, er sei mit den Möglichkeiten digitaler Therapieunterstützung gut vertraut. Nur rund 15 Prozent der befragten Hausärzte und Fachärzte sahen großes Potenzial, um digitale Therapien bei der Patientenbehandlung nützlich einzusetzen.
Digitale Therapien - Neuland für Ärzte
Vier Monate nach unserer Internetnutzungsstudie verabschiedete der Deutsche Bundestag das Digitale Versorgung Gesetz (DVG) und machte den Weg frei für digitale Gesundheitsanwendungen auf Rezept. Nun wurde es spannend - also legten wir nach und führten im Januar/Februar eine neue Befragung durch, diesmal mit 300 Allgemeinmedizinern/Hausärzten aus niedergelassenen Praxen in Deutschland. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Mit dem neuen Gesetz für die digitale Versorgung wissen die Ärzte aktuell nicht viel anzufangen. Lediglich 13 Prozent der Allgemeinmediziner sind mit den Auswirkungen und digitalen Möglichkeiten, die durch das DVG geschaffen werden, (umfassend) vertraut, knapp zwei Drittel sind es (ausdrücklich) nicht. Entsprechend gering ist die Begeisterung, die das neue Gesetz auslöst: Nur gut jeder zehnte Allgemeinmediziner begrüßt das DVG sehr, lediglich jeder fünfte Hausarzt freut sich auf die Möglichkeiten, die durch das Digitale-Versorgung-Gesetz geschaffen werden und nur jeder Dritte fühlt sich den damit verbundenen IT-technischen Anforderungen gewachsen. In den Freitext-Fragen wird ordentlich geflucht: „Wie kann man ein Gesetz (!) zur Nutzung von Apps erlassen? Völliger Unsinn, mangelnde Datensicherheit, fehlende Arzt-Patienten- Kommunikation“
Senioren laut Ärzten zu alt für Apps
Nur knapp ein Viertel der Hausärzte geht davon aus, dass Ärzte in niedergelassene Praxen vom DVG innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre profitieren werden und auch mit Blick auf Patienten sind sie eher skeptisch. Am ehesten werden ihnen zufolge Patienten unter 60 Jahre von den Möglichkeiten digitaler Gesundheitsanwendungen profitieren (52 Prozent Zustimmung). Dass auch Patienten über 60 Jahre oder Angehörige dieser Altersgruppe zeitnah von den Möglichkeiten digitaler Therapien profitieren werden, schließen zwei Drittel der Hausärzte eher aus. Die Gründe für diese hohe Skepsis liegen in erster Linie darin, dass die Ärzte den 60+jährigen Patienten und Angehörigen den Umgang mit digitalen Anwendungen und Apps nicht zutrauen. Sie unterstellen ihnen vielfach „mangelndes technisches Interesse und Verständnis“ und glauben, sie seien „den Anforderungen mental wie auch körperlich eher nicht gewachsen (Bettlähgerigkeit, schlechtes Sehvermögen, eingeschränktes fingerspiel etc.“. Einige Ärzte verweisen zudem auf den Datenschutz, vermuten Desinteresse bei den Patienten, sehen keinen Mehrwert oder meinen, die älteren Patienten „brauchen den Quatsch nicht“ sondern die direkte Zuwendung des Arztes: „Ich bin lieber emotional als digital !!“.
Nur gut jeder zehnte Allgemeinmediziner sieht dies anders und meint, dass auch die heute 60+Jährigen Patienten innerhalb der kommenden zwei bis drei Jahre von digitalen Gesundheitsanwendungen profitieren werden. In ihren Augen können sich Vorteile bei der Dokumentation ergeben, beispielsweise „durch leichtere Kontrolle und Dokumentation bestimmter Messwerte ( Zucker, RR )“, sie sehen „bessere Möglichkeiten der Vernetzung bei eingeschränkter Mobilität“, „Vermeidung unnötiger Wege“ und finden, „die Leute arbeiten doch auch jetzt schon mit (...) den neuen Medien“.
Bislang fehlt den Ärzten die Anwendungsidee
Zieht man neben dem Alter der Patienten auch das Alter der Ärzte in Betracht, zeigt sich, dass nicht nur für viele ältere Patienten die Chancen digitaler Therapien zu spät zu kommen scheinen, sondern auch für die älteren Ärzte. Denn die Verordner ab 50 Jahre fremdeln deutlich stärker mit den Möglichkeiten des DVG als ihre jüngeren Kollegen. So sagen zwar die 50+Jährigen Ärzte ebenso oft wie die unter 50-Jährigen Ärzte, ihre Praxis sei softwaretechnisch bestens auf die Möglichkeiten des DVG vorbereitet (27 zu 26 Prozent). Doch nur jeder fünfte Arzt ab 50 Jahre stimmt der Aussage zu, dass die digitalen Gesundheitsanwendungen vielfältige Möglichkeiten erschaffen, um Patienten auf dem Weg zu einer selbstbestimmten und gesundheitsförderlichen Lebensführung zu unterstützen. Die jüngeren Ärzte unter 50 Jahre stimmen dieser Aussage zu knapp 40 Prozent zu. Knapp ein Drittel der jüngeren Ärzte freut sich bereits auf die Möglichkeiten, die durch das DVG geschaffen werden, bei den älteren Ärzten sind es nur 14 Prozent. Gut ein Drittel der jüngeren Allgemeinmediziner geht davon aus, dass Ärzte in der Niederlassung von den Neuerungen des DVG zeitnah profitieren werden, von den weiblichen APIs unter 50 Jahre sagen dies sogar 44 Prozent. Bei den Befragten über 50 Jahre sieht dies nur knapp jeder fünfte. Damit stellen für eine erfolgreiche Einführung von Gesundheits-Apps nicht unbedingt nur Vorurteile gegenüber älteren Patienten eine Hürde dar – sondern auch die tradierte Haltung von Verordnern alten Schlags.
Wird die Corona-Pandemie nun zum digitalen Treiber?
All diese Erkenntnisse ermittelten wir also im Jahre 2019 sowie Anfang 2020 - vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie und all den damit verbundenen Folgen hierzulande. Innerhalb weniger Wochen ist die Situation des Gesundheitssystems eine völlig andere: Ärzte die sich global, national und lokal schnellstmöglich über die Entwicklung der Pandemie austauschen, vorbereiten und einarbeiten müssen. Kontaktsperren, die besonders auf die Risikogruppen der älteren sowie der vorerkrankten Patienten abzielen. Diskussionen über Apps, die die Infektionsketten identifizieren und potenziell Infizierte zur freiwilligen Quarantäne anregen sollen. Menschen, die aufgrund all der Maßnahmen Ängste und auch Depressionen entwickeln - und über Hotlines oder andere digitale Services Unterstützung erhalten können.
Wie wird sich die digital basierte Gesundheitsversorgung nun entwickeln? Wir bei DocCheckResearch bleiben dran - und werden bereits in Kürze erste Folgebefragungen zum Thema starten. Über Anregungen, Kommentare und Erfahrungsberichte freuen wir uns natürlich auch hier, in diesem Kanal!
Studieninfos:Für die Deep Dive Internetnutzung 2019 wurden n= 503 Heilberufler (APIs, Fachärzte, Zahnärzte, Apotheker und PTAs) im Juni/Juli 2019 per Zufallsauswahl aus dem DocCheck Panel von DocCheck Research befragt. Studienleitung & - Durchführung: Anja Wenke, Swenja Mehring, Christel von Hammel.Für die DVG-Studie wurden vom 23. Januar bis 5. Februar 2020 n = 300 in Deutschland tätige Allgemeinmediziner (APIs) im Rahmen einer Mehrthemenbefragung per Zufallsauswahl aus dem DocCheck Panel durch das Institut DocCheck Research befragt. Studienleitung und -durchführung: Anja Wenke, Julia Schröder.
Bildquelle: Pixabay-1476525