Optimistische Töne von den Vereinten Nationen: Experten des Hilfsprogramms UNAIDS zufolge wäre es möglich, bis 2030 HIV beziehungsweise AIDS auf globaler Ebene zu kontrollieren. Auch das Fernziel Heilung rückt etwas näher.
„Alle fünf Jahre haben wir die Zahl der Menschen mit einer lebensrettenden Behandlung mehr als verdoppelt“, sagte UNAIDS-Chef Michel Sidibe zur HIV-Therapie. „Wir müssen es noch ein weiteres Mal tun, um die AIDS-Epidemie zu brechen.“ Erhielten im Jahr 2005 noch 2,2 Millionen Menschen antiretrovirale Medikamente, waren es 2010 bereits 7,5 Millionen und Mitte 2015 sogar 15,8 Millionen. Gleichzeitig sank die Zahl an AIDS-assoziierten Todesfällen von zwei (2004) auf 1,2 Millionen. Erfolge lassen sich nicht nur auf besser verfügbare Arzneimittel zurückführen, sondern auf neue Strategien.
Mittlerweile hat die WHO diverse Einschränkungen aufgegeben. Früher lautete ihre Maxime, nur Patienten mit Symptomen zu behandeln. Später orientierten sich Ärzte am CD4-Wert. Virologen hoben die Untergrenze von 200 auf 350 und später auf 500 Zellen pro Kubikmillimeter an. In ihren aktuellen Leitlinien heißt es, alle HIV-positiven Menschen sollten baldmöglichst behandelt werden – eine Erkenntnis aus der TEMPRANO- und der START-Studie. Serodiskordante Paare oder Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), profitieren von antiviralen Arzneistoffen zur Präexpositionsprophylaxe, speziell von Tenofovir oder Tenofovir plus Emtricitabin. Das Programm hat einen strategischen Hintergrund. UNAIDS-Experten schreiben, bis 2020 sollen 90 Prozent aller Menschen mit HIV von ihrer Infektion wissen. Mit Behandlungsraten und Erfolgsquoten von 90 Prozent könnte es gelingen, die Krankheit bis 2020 einzudämmen. Große Ziele, von denen etliche Länder weit entfernt sind.
Wer jetzt nur an medizinisch schlecht versorgte Gegenden Afrikas denkt, täuscht sich gewaltig. In Europa und Nordamerika übersehen Health Professionals im Schnitt jede zweite Infektion, berichten Dorthe Raben und Jens D. Lundgren aus Kopenhagen. Sie erfassten an 23 Kliniken, wie oft Ärzte Patienten mit einer sogenannten Indikatorkrankheit HIV-Tests angeboten hatten. Die Untersuchungsrate lag in Nordeuropa bei 44 Prozent, verglichen mit 77 Prozent in Zentral- und 99 Prozent in Osteuropa. Schön und gut, nur entfielen 99 von 105 übersehenen HIV-Infektionen ebenfalls auf Länder des östlichen und südlichen Europas. Aus beiden Größen errechneten Forscher, dass im Gebiet jede zweite HIV-Infektion unentdeckt blieb. Noch ein Blick auf Deutschland: Das Robert Koch-Institut schätzt, 13.200 aller 83.400 Menschen mit HIV/AIDS wüssten nichts von ihrer Infektion. Eine frühe Diagnose senkt die Mortalität und die Behandlungskosten. Gleichzeitig werden Infektionen seltener verbreitet. Heute gelten negative Ergebnisse mit Tests der vierten Generation, also kombinierten Antigen-Antikörper-Tests, bereits sechs Wochen nach der letzten möglichen Exposition als aussagekräftig.
Im Falle einer Infektion setzen Virologen auf hochaktive antiretrovirale Therapien (HAART) mit drei Wirkstoffen aus zwei Wirkstoffklassen: zwei nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren plus ein nicht-nukleosidischer Reverse-Transkriptase-Inhibitor oder ein Integrase-Inhibitor oder ein Proteasehemmer inklusive „Booster“. Das Regime geht mit zahlreichen Nebenwirkungen einher. Aus Angst vor möglichen Resistenzen versuchen Ärzte nur selten, die Zahl an Wirkstoffen zu reduzieren. Jetzt hat Nicholas I. Paton, Singapur, untersucht, inwieweit eine Erhaltungstherapie mit Protease-Inhibitoren möglich ist. Er rekrutierte 587 Personen mit HIV-Infektion, die mindestens 24 Wochen lang erfolgreich mit drei Wirkstoffen behandelt worden waren. Sie nahmen entweder ihre Pharmaka weiter ein oder wechselten auf Darunavir beziehungsweise Lopinavir plus Ritonavir als Booster. Nach 44 Monaten benötigten 58 Prozent aller Teilnehmer weiterhin nur einen Wirkstoff, während 42 Prozent wieder auf die Standardtherapie wechseln mussten. Resistenzen traten in der Monotherapiegruppe etwas häufiger auf (2,1 versus 0,7 Prozent). Der Unterschied war statistisch nicht signifikant. Paton bewertet die Behandlung mit einem Wirkstoff als „nicht unterlegen“. Er sieht zahlreiche Vorteile, etwa weniger Nebenwirkungen, eine höhere Adhärenz und nicht zuletzt geringere Kosten. Nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren mit ihrer Nephrotoxizität wären damit vermeidbar.
Trotz dieser Fortschritte hoffen Patienten weiter auf Heilung. Marcus Altfeld aus Hamburg ging deshalb der Frage nach, wie NK-Zellen HIV-infizierte Zellen erkennen und wie das Virus es schafft, Immunreaktionen zu unterbinden. Durch selektive Mutationen verstärken HIV-Partikel ihre Bindung an inhibierende KIR-Rezeptoren (killer cell immunoglobulin-like receptors). NK-Zellen schreiten nicht mehr zur Tat. Immunologische Prozesse spielen noch in anderem Zusammenhang eine große Rolle. Michel C. Nussenzweig, New York, arbeitet mit neutralisierenden Antikörpern. 3BNC117 eliminiert unterschiedliche HI-Viren und verringert die Viruslast, berichtet Michel C. Nussenzweig, New York. Der Effekt hielt bis zu 28 Tage an. Zusammen mit Kollegen plant er jetzt eine Studie in Hinblick auf die Heilung von HIV. Andere Labors haben sich dem Thema Prävention verschrieben. Unter dem Dach von EAVI2020, der European AIDS Vaccine Initiative, kooperieren 22 Institutionen und Biotech-Unternehmen weltweit. Innerhalb von fünf Jahren wollen sie experimentelle Impfstoffe entwickeln und am Menschen testen.