MEIN KNIFFLIGSTER FALL | Der Patient landet im Krankenhaus. Der Grund: wiederkehrende Anfälle demenzieller Unruhe. „Mein Mann kommt mir aber nicht dement vor“, sagt die unglückliche Ehefrau.
Um zwei Uhr nachts werde ich im Notdienst zu einem 84-jährigen Patienten gerufen aufgrund „demenzieller Unruhe“. Bei meinem Eintreffen ist diese Unruhe bereits vorbei. Er schläft friedlich, ist aber erweckbar und macht keinesfalls einen dementen Eindruck.
Ich unterhalte mich dann mit einer sehr unglücklichen Ehefrau, die mir fast weinend berichtet, wegen dieser Anfälle sei er bereits im Krankenhaus gewesen, man habe aber nichts gefunden. Auch das CCT sei unauffällig gewesen. Man habe ihr gesagt, Demenz sähe man im CT sowieso nicht.
Komisch, sieht man nicht immer zumindest Mikroinfarkte oder Atrophien?Also abgeklärt, sogar stationär! Dann kann ich mich doch eigentlich verabschieden? Aber irgendetwas hält mich zurück.
Ihr Mann erscheine ihr aber gar nicht dement, er vergesse mal ab und zu etwas, aber sonst sei er völlig normal. Welche Demenztests gemacht wurden, kann sie mir nicht sagen. Die Neurologin habe ihr Beruhigungstabletten (Melperon 25 mg) gegeben und gesagt, er solle einfach eine mehr und damit drei Tabletten abends (75 mg) nehmen. Die Anfälle seien aber trotzdem immer wieder aufgetreten.
Ich stellte ihr nun die Frage, wie diese Anfälle eigentlich ablaufen und wie häufig sie auftreten.
In den letzten Monaten seien sie 4-5 Mal aufgetreten, erzählt die Frau.
Auch diese Information spricht nicht für dementielle Unruhe. Dafür ist es zu selten. Es muss etwas anderes sein.
Zum Ablauf berichtet sie: Es beginne ganz plötzlich.
Jetzt horche ich auf, denn dementielle Unruhe beginnt nicht plötzlich, sondern schleichend. Der akute Beginn spricht eher für ein Delir.
Ihr Mann halte sich dann den Kopf und schreie: „Ich weiß nichts mehr.“ Dann folge ein sehr starker Schweißausbruch, der mit mehreren Handtüchern kaum zu beherrschen sei.
Diese Aussage lässt ein Stoffwechsel-Delir erahnen.
Dann schreie er vor Schmerzen in den Beinen, sei unruhig und stampfe mit den Beinen auf. Er habe die ganze Zeit die Augen geöffnet, sie könne mit ihm reden, erhalte aber keine Antworten. Nein, er habe nicht mit Händen und Füßen geschlagen, nicht eingenässt und keinen Zungenbiss gehabt.
Differentiadiagnostisch also kein epileptischer Anfall!
Es höre dann ganz plötzlich wieder auf. Heute habe es eineinhalb Stunden gedauert. In ihrer Not habe sie den RTW gerufen, am Telefon hätten die aber gesagt, wegen dementieller Unruhe kämen sie nicht raus.
Haben die richtig nachgefragt, was da abläuft?Also höchstwahrscheinlich ist es ein Stoffwechsel-Delir, aber welches? Ich wälze im Kopf mein Palliativ-Lehrbuch: Häufig werden solche Delire durch Medikamente verursacht, also betrifft die nächste Frage von meiner Seite die Medikation.
Ja, er spritze Insulin!
Da sind wir wohl auf der richtigen Fährte. Wieviel spritzt er, wird der Blutzucker vorher geprüft?
Nein, er spritze jeden Abend die gleiche Dosis. Nein, der Zucker würde vorher nicht gemessen, denn der Hausarzt schreibe keine Blutzuckermessstäbchen mehr auf.
Das deutet auf einen hypoglykämischen Schock hin, für den auch die Hyperhidriasis typisch ist und führt mich zur letzten entscheidenden Frage: Hat ihr Ehemann heute Abend weniger gegessen als sonst?
Ja, er habe nur eine halbe Scheibe Brot heute Abend gegessen.
Nun ist alles klar. Ich mache sofort einen Blutzuckertest, der den Wert von 49 mg % ergibt. Und dabei ist der Patient wach und orientiert! Wie niedrig war der Zucker wohl vor zwei Stunden? Und in einer solchen Situation hat der RTW den Hausbesuch verweigert! Es wäre ein NAW-Einsatz notwendig gewesen!
Da der Patient wach und kooperativ ist, verzichte ich auf eine Injektion und weise die Ehefrau an, ihm sofort Obstsäfte und dann noch möglichst viel zu essen zu geben. Dann erkläre ich ihr die Sachlage: „Schwerer Zuckerschock“.
Ja, aber der Zucker sei doch immer so gut gewesen, erwidert sie. Der Durchschnittswert, der alle drei Monate geprüft würde, sei ganz niedrig.
Natürlich ist der HBA1C niedrig, wenn immer wieder schwere Unterzuckerungen auftreten.
Ich verabschiede mich von einer überglücklichen Ehefrau – überglücklich, weil ich die Demenz-Diagnose in Frage gestellt habe und sich eine Erklärung für die Anfälle gefunden hat.
Schließlich verlasse ich kopfschüttelnd das Haus. Kopfschüttelnd, weil doch nur ein paar Fragen, in einer gezielten Anamneseerhebung, ausgereicht haben, um diese rätselhaften Anfälle diagnostisch zu klären. Kopfschüttelnd über die mangelnde Aufklärung eines Patienten, der Insulin spritzt und die Verweigerung der Verschreibung von Blutzuckermessstäbchen. Kopfschüttelnd aufgrund der Fehldiagnose „Demenz“ und „ dementielle Unruhe“, die die Familie seit Monaten belastet hat. Kopfschüttelnd über unsere apparative und schematisierte Diagnostik, die den Weg zu dieser einfachen Diagnose verbaut hat.
Dieser Beitrag ist von Susanne Berning. Mit dieser Kasuistik hat sie unseren DocCheck-Wettbewerb Mein kniffligster Fall gewonnen. Weitere Patientenfälle werden in den nächsten Wochen in unserem Newsletter und auf diesem Kanal veröffentlicht.
Bildquelle: Lucie Hošová, unsplash