Neue Onkologika werden in Studien besser dargestellt, als sie sind. Im klinischen Alltag zeigt sich dann: Die Krebsmedikamente haben weniger Wirkung und außerdem mehr Nebenwirkungen. Was kann der Onkologe tun?
Welchen Benefit haben Onkologika wirklich in der Praxis? Diese Frage müssen sich Ärzte nach einer neuen Arbeit stellen. Denn jede zweite Studie zur Zulassung neuer, meist hochpreisiger Onkologika hat mehr oder minder starke Verzerrungen aufgrund des Designs bzw. der Auswertung. Das berichtet Huseyin Naci von der London School of Economics and Political Science, im BMJ.
Naci untersuchte Zulassungen im Bereich der European Medicines Agency (EMA). Anzumerken ist, dass die gleichen Studien auch der US Food and Drug Administration (FDA) und weiteren Behörden vorgelegt werden – es handelt sich um kein europäisches Problem.
Zwischen 2014 und 2016 gab die EMA grünes Licht für 32 neue Krebsmedikamente auf der Basis von 54 Zulassungsstudien. Darunter befanden sich 41 (76%) randomisierte, kontrollierte Studien, sprich RCTs, und 13 (24%) nicht-randomisierte Studien oder einarmige Studien. Bei 39 der 41 RCTs gab es Originalveröffentlichungen, so dass eine Analyse möglich war. Forscher erfassten nur bei 10 randomisierte kontrollierte Studien (26%) das Gesamtüberleben entweder als primären oder als co-primären Endpunkt, während sie bei den restlichen Studien Surrogate wie das progressionsfreie Überleben oder die Ansprechraten verwendeten.
Insgesamt stufte Naci 19 RCTs (49%) als stark verzerrt ein. Das lag vor allem an fehlenden Daten zu Ergebnissen oder an Schwächen bei den Messungen selbst. Generell waren RCTs mit dem Gesamtüberleben als Endpunkt seltener methodisch anzugreifen als RCTs mit Surrogatparametern, nämlich 2/10 (20%) versus 16/29 (55%) Arbeiten. Der Vergleich offizieller Zulassungsdokumente mit wissenschaftlichen Publikationen lieferte die nächste Überraschung. Hinsichtlich möglicher Verzerrungen gab es bei 8 RCTs (21%) Unterschiede, je nachdem, wo diese veröffentlicht worden sind. Die Zulassungsbehörde selbst berichtet von einem hohen Bias-Risiko bei 10 Arzneimittel (31%). Damit sei die Größenordnung des klinischen Nutzens fraglich, schreibt Naci.
„Am besten wäre natürlich, jede Zulassungsstudie mit dem Gesamtüberleben als primärem Endpunkt durchzuführen“, kommentiert ein Onkologe aus Nordrhein-Westfalen im Gespräch mit DocCheck. „Es gibt aber auch Untersuchungen, die zeigen, dass Surrogatparameter prinzipiell geeignet sein können.“ Hintergrund sei, dass Patienten bei verschiedenen Krebserkrankungen, etwa einem Kolonkarzinom, unter Umständen noch mehrere Jahre zu leben hätten. „Dann kommen Forscher mit ihrer Studie erst nach längerer Zeit zum Ende“, sagt der Kollege.
Kritische Punkte nennt er trotzdem: „Ganz klar, Pharmaunternehmen designen Zulassungsstudien so, dass sie die besten Ergebnisse herausholen können. Sie schließen – relativ gesehen – gesündere Patienten ein, um die Studie durchzuziehen.“ Grundsätzlich sollten Zulassungsstudien aber so realitätsnah wie möglich designt sein.
Der Kollege ergänzt: „Tatsächlich kennt jeder Onkologe das Problem: Plötzlich treten laut Zulassungsstudie angeblich seltene Nebenwirkungen doch gehäuft auf. Oder der klinische Verlauf entspricht nicht den Erwartungen.“ Das Problem trete vor allem bei völlig neuen Wirkstoffklassen auf; zu neueren aber bekannten Pharmaka wie CTLA-4, PD-1- und PD-L1-Checkpoint-Inhibitoren liege bereits mehr Wissen vor.
Der befragte Onkologe kann aber auch einen „ärztlichen Bias“ nicht ausschließen. Man versucht, Ergebnisse bei weniger als 10 Patienten aus der Klinik mit den Resultaten einer großen Zulassungsstudie zu vergleichen. Das passt zahlenmäßig einfach nicht zusammen. Komorbiditäten im Alltag, die vielleicht in der Studienpopulation nicht aufgetreten sind, können Unterschiede aber auch erklären.
Zudem sei die klinische Relevanz mancher Daten aus Studien fraglich: „Was bringt es, wenn sich das Gesamtüberleben zwar statistisch signifikant erhöht, aber nur um wenige Wochen?“ Der Benefit müsse dann im Einzelfall beurteilt werden, erklärt der Kollege. „Bringt die Therapie auch eine bessere Lebensqualität?“
Er vermutet, dass die von Naci dargestellten Schwierigkeiten in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen. Zum Hintergrund: Heute gelten in der Onkologie personalisierte Therapien als modernster Ansatz. Das heißt: Zulassungsstudien werden kleiner, und Behörden lassen Arzneimittel auf dieser Basis kleiner Studien vorläufig zu. Sie verpflichten pharmazeutische Hersteller, später Daten nachzureichen.
In einem begleitenden Kommentar macht sich auch Naci seine Gedanken. „Die meisten Krebsmedikamente kommen auf den Markt, weil sie Surrogat-Endpunkte verändern, aber nicht klinische Ergebnisse, die für Patienten und ihre Ärzte von Bedeutung sind – nämlich das Gesamtüberleben und die Lebensqualität.“
Pharmaka könnten sich als wirkungslos erweisen, etwa Bevacizumab beim Glioblastom, beim metastasierten Brustkrebs bzw. beim fortgeschrittenen Eierstockkrebs, Axitinib beim fortgeschrittenes Nierenzellkarzinom, Everolimus beim metastasierten Brustkrebs bzw. Atezolizumab beim Harnblasenkarzinom.
„Schlimmer noch: Krebsmedikamente, die bei Surrogatendpunkten wirksam erscheinen, können tatsächlich negative Auswirkungen auf das Überleben haben“, ergänzt Naci. „In der BELLINI-Studie hatten Patienten mit Multiplem Myelom, die Venetoclax erhielten, sogar eine kürzere Überlebenszeit als diejenigen, die eine Kontrollbehandlung erhielten.“
Das Fatale: Venetoclax erscheine auf Grundlage häufig verwendeter Surrogatendpunkte wie dem progressionsfreien Überleben und der Ansprechrate effektiver als Kontrollen, schreibt der Forscher.
So viel zur Forschung. Dem Erstautoren ist aber klar, dass Ärzte im Tagesgeschäft keine derart detaillierten Analysen durchführen können, um sich selbst ein Bild zu machen. „Wir empfehlen, neue Strategien zur Sammlung und Kommunikation von Informationen über die Validität klinischer Studien zu entwickeln und zu testen“, schreibt Naci.
Bildquelle: Sigurdur Fjalar Jonsson, Unsplash