„Hör mal, einer unserer Assistenzärzte macht eine Lumbalpunktion auf dem Notfall. Hast du Zeit und Lust, ihm zu assistieren?“ Klar hab ich. Als es losgeht, spüre ich die Unsicherheit meines Kollegen.
Kennt ihr das auch: Man entwickelt oder verändert sich, aber man selbst merkt recht lange gar nichts davon? Ich stelle das besonders auf der Arbeit fest. Kürzlich ist mir wiedermal bewusst geworden, dass ich durchaus kompetenter bin, als ich es mir selber zugestehe – dank eines Oberarztes.
Es war zu Beginn einer Nachtschicht. Ich hatte gerade nicht viel zu tun, nur Schreibkram – bei uns gilt die Regel, dass der Nachtdienst alles Administrative erledigt – als der internistische Oberarzt mich anrief. „Hör mal, einer unserer Assistenzärzte, Gian, muss eine Lumbalpunktion auf dem Notfall machen, hast du vielleicht Zeit und Lust, ihm zu assistieren?“
Ich hab beides. Schreiben kann ich auch nachher noch, und Gian kenne ich noch vom Studium her. Er hat ein Jahr vor mir abgeschlossen. Ich assistiere manchmal richtig gern, da muss man nicht viel nachdenken. Das genieße ich manchmal sehr in diesem doch recht kopflastigen Job.
Der Patient hatte eine nicht ganz einfache Anatomie. Er war recht übergewichtig und zudem jung und kräftig, eine maximal schwierige Kombination, denn man sieht dabei die einzelnen Wirbel nicht und das Gewebe ist sehr straff und erlaubt nur wenig Korrektur mit der Nadel. So ist es also einerseits schwieriger, den richtigen Ort zum Stechen zu finden und andererseits auch, die Nadel danach in den richtigen Winkel zu justieren.
Schon als Gian das Material bereitlegte und sich an die Desinfektion machte, sah ich seine Unsicherheit und Unerfahrenheit. Ich kann nicht einmal genau sagen, warum – er hat nichts falsch gemacht, aber gewisse Handgriffe in einer nicht sinnvollen Reihenfolge erledigt oder umständlich hantiert. Ungefragt Aweisungen geben wollte ich auch nicht, aber ich gab ihm ein paar Tipps. Nach zwei Fehlpunktionen schaute er mich leicht frustriert an: „Machst du dich mal steril und übernimmst?“
Da wurde es mir erst bewusst: Ich war eigentlich gar nicht zum „Assistieren“ hier, sondern zur Supervision. Sozusagen in Oberarztfunktion. Ich. Ein seltsames Gefühl. Das hätte mir der Oberarzt ruhig sagen dürfen, dann hätte ich mir auch mehr Mühe beim Teaching gegeben. So war ich aber davon ausgegangen, dass Gian die Prozedur beherrscht und ich lediglich für Handreichungen da bin.
Ich übernahm also. Auch ich musste zweimal stechen, um den richtigen Ort zu finden, doch es gelang. Die klare Flüssigkeit tropfte aus der Nadel, und Gian reichte mir die Reagenzgläser, um die Tropfen aufzufangen. Kurz darauf waren wir fertig, und ich verabschiedete mich vom Patienten.
Warum hat sich das so seltsam angefühlt? Erstens wohl, weil Gian ein ganzes Jahr länger Arzt ist als ich. Er hat schließlich ein Jahr mehr Erfahrung. Allerdings heißt das ja nicht, dass er mehr Erfahrung bei genau dieser Prozedur hat, da bin ich von der Anästhesie her schon routinierter. Jede Spinalanästhesie ist eine Lumbalpunktion, und Spinalanästhesien haben wir viele gemacht. Diagnostische Punktionen gibt es deutlich weniger, und die müssen sich die vielen internistischen Assistenzärzte noch untereinander aufteilen.
Allerdings sehe ich meine Erfahrung selbst einfach nicht. Für mich fühlt sich grundsätzlich alles immer noch gleich an, wie vor vier Jahren, als ich grün und frisch vom Staatsexamen klinisch zu arbeiten anfing. Die Erfahrung kam schrittweise, manches schneller, manches langsamer, und so ist es schwieriger, Veränderungen zu merken.
Zweitens ist es so, dass wenn ich mit einem Mann in einem Zimmer bin, ihm grundsätzlich automatisch mehr Kompetenz zugesprochen wird, unabhängig davon, ob er mein Oberarzt, ein Pfleger oder ein Medizinstudent ist. Meist findet das unbewusst in den Köpfen statt, aber für die meisten Patienten (und das ist übrigens unabhängig vom Alter) ist jeweils der älteste Mann die kompetenteste Person im Raum. Diesmal ging auch ich selber davon aus, weil Gian ja ein Jahr vor mir das Studium abgeschlossen hat, also muss er doch besser und erfahrener sein, oder? Da spielt auch meine eigene Unsicherheit mit rein, vonwegen Licht unter den Scheffel stellen und so.
Irgendwann – und so wahnsinnig lange geht das nicht mehr – werde ich meinen Facharzt zusammenhaben und irgendwo als Oberärztin angestellt sein. Ich gehe aber davon aus, dass ich mich dann bewusst in der Rolle finde, weil ich ja schließlich explizit als Oberärztin angestellt (und bezahlt, haha) sein werde. Aber aktuell fühlt es sich für mich einfach noch extrem seltsam an, wenn ich andere Assistenzärzte anleite.
Bildquelle: Julien Harneis, flickr