Zur Abwechslung bin ich mal zu Besuch im Krankenhaus, nicht dienstlich. Den Profiblick hab ich trotzdem. Und sehe direkt, in welchen Zimmern liebevoll versorgte Menschen liegen – und in welchen nicht.
Ich erkenne sofort den Familien- und Liebesstatus, sobald ich ein Patientenzimmer betrete. Ich bemerke den großen Freundeskreis ebenso wie eine junge Familie oder liebevolle Angehörige. Eine lärmende Peergroup oder eben … nichts. Mein Auge ist darin inzwischen geübt.
Wenig ist trauriger, als in ein solches Patientenzimmer einer Hochbetagten zu kommen und nichts, aber auch rein gar nichts Persönliches oder Privates vorzufinden.
Keine Zeitschriften. Keine Flasche Nektar aus irgendwelchen dubiosen Früchten. Kein Kuscheltier von Kindern oder Enkelkindern zum Trost. Kein Blümchen und kein Nagellack. Keine Haarbürste, die auf dem Nachttisch vergessen wurde, kein buntes Handtuch.
Es fällt mir auch bei Patientenbesuchen im privaten Bereich auf. Wie bei ihr, die „unfassbar viel Wasser“ überall hat und zur „Entwässerung“ in die Klinik musste. Bei jedem Besuch scheint sie runder und praller und die Schnallen der Schuhe sind eine Öse weiter geschlossen.
Das Seniorenheimpflegepersonal scheint geflissentlich wegzuschauen und der Hausarzt kann leider nicht kommen.
„Gummistrümpfe zur Kompression?“
„Ziehse mir hier nicht an. Das ist so schwierig und sie kriegen sie nicht über die dicken Knöchel drübber!“
„Aha!“
Da liegt sie, im geblümten rosa Nachthemd, der Katheterbeutel prall gefüllt. Ich sehe mich schon auf einer Woge Pipi davon geflutet und halte dementsprechend vorsichtshalber Abstand.
Sie will aufstehen. Vor Freude und Respekt vor seltenem Besuch. Seit einem Monat kann sie aber kaum noch stehen. Sie ist trotzdem der felsenfesten Überzeugung, mit ein wenig Übung und einer Spritze vom Hausarzt würde das schon wieder werden.
Auf Twitter würde es heißen: Wer sagt es ihr? Sie ist 94 Jahre alt. Unfreiwillig im Seniorenheim untergebracht. Nach mehreren häuslichen Stürzen wollte die weite entfernt wohnende Nichte die Tante nicht mehr Zuhause wohnen wissen. Zack. Sie blieb im Heim, in dem sie zur Kurzzeitpflege schon untergebracht war.
Umzug aus einer Dreizimmerwohnung in ein 2-Bett-Zimmer. Im Koffer auf dem Schrank bewahrt sie jetzt ihre Winterklamotten auf. Einen winzigen Teil. Vier Meter Gelsenkirchener Barock passen einfach nicht in einen Seniorenheim-Zweibett-Spind.
Alles weg. Einen Abschied gab es nicht, sie war ja schon im Heim. Für alles muss sie sich mit der Nichte absprechen. „Bitte, bring mir meinen Kamel-Hocker für meine Füße! Was ist mit meinem Lieblingsschmuck? Wo sind denn meine Pantoffel? Die hast du WEGGESCHMISSEN?“
Gut – man könnte früher darüber nachdenken, wie man sein Leben im Alter gestalten will. Welche Vorsorgen man treffen möchte. Wer einem die Wahrheit sagt, wenn es nicht mehr allein machbar ist. Und wann dieser Zeitpunkt gekommen ist. Es ist trotzdem ein Elend.
Trotz vieler Jahre Praxis (ich) und starkem Willen (sie) gelingt es uns beiden nicht, sie vom Bett in den Rollstuhl zu setzen. Sie ist schlaff wie ein Sack. Die Beine gehorchen ihr nicht, stehen kann sie nicht. Ich will Hilfe holen und schaue auf den Flur. Es ist Abendbrotzeit und ich habe schon das Personal mit dem Essenswagen gesehen.
Siehe da. Zwei bekannte Gesichter. Schwester Micha und Schwester Renata. Wir freuen uns sehr, uns zu sehen. Die beiden stehen am Essenswagen herum.
„Was machst du denn hier?“
„Seniorenbesuch! Würde eine von euch mitkommen und mir helfen, sie in den Rollstuhl zu setzen?“
„Ich heb mir doch keinen Wolf und in zwei Minuten will sie wieder ins Bett! Nein, nein. Das Spielchen mach ich nicht mit! Die bleibt im Bett!“
Eigenschutz vor Patientenwohl. Das kenn ich schon. Immerhin schickt sie eine Praktikantin. Zusammen wuchten wir die Uralte in den Rollstuhl und auch der Vorschlag, den Katheterbeutel unter Umständen zu leeren, wird gehört.
Das Abendbrot kommt. Ich schmiere Brote. Noch nie hat die Uralte „Reiterle“ bekommen. In ihrem Elternhaus gab es das nicht und bei ihren Kindern hatte sie keine Zeit. Da wollten neben den Kindern, der kranken angeheirateten Tante auch noch der Ehrmann und die Schwiegereltern Abendbrot.
Verwöhnen? „Was für ein unpraktischer Quatsch!“, sagt sie und beißt vom geviertelten Teewurstbrot ab. Sie kichert ein bisschen. Vielleicht ist verwöhnen doch ganz nett – so dann und wann?
Schwester Micha schaut vorbei und ermahnt die Zimmernachbarin, ein wenig langsam mit dem Bohnensalat zu machen – nach der Darmspiegelung drei Stunden zuvor. Daraufhin pupst diese laut und vernehmlich und stellt das Schüsselchen traurig zurück.
Manchmal vermisse ich das alles. Ich schmiere weitere Brote und höre mir die Geschichten an. Geschichten über Fencheltee, den es ausschließlich in den Kriegsjahren zu trinken gab und an den sie sich deshalb gewöhnen musste und ihn immer noch trinkt.
Ich höre mir Schwester Michas Geschichten über die viele Arbeit, über die zwei neuen Hüften von Schwester Renata und über ihre eigenen schlimmen Knie an. Die „beide gemacht werden müssten, aber das geht jetzt nicht, denn dann bricht hier vollends der Laden zusammen.“ Ich sehe die Erschöpfung in ihren Augen und den unrunden Gang, als sie weitergeht.
All das sehe ich. Und höre ich. Und manches rieche ich auch. Wie wird es uns einmal gehen? Wer wird uns besuchen und pflegen?
Ich hoffe sehr, dass mein Krankenzimmer einst nicht so derart traurig nüchtern und kühl aussehen wird. Und dass ich ein stabiles Netz aus Freunden, Wegbegleitern und Kindern, Kindeskindern sowie Kindeskindeskindern gesponnen habe, das mich trägt.
Der Rest ist Gnade.
Bildquelle: Darius Bashar, Unsplash