Bei einer großen Zählung von 2.200 Interneuronen im Mäuse-Neokortex fand man insgesamt 15 verschiedene Zelltypen. Davon waren fünf bis dato unbekannt. Dieser „Zensus“ erlaubt weitreichende Schlüsse auf die Art, wie im Gehirn komplexe Berechnungen durchgeführt werden.
Die Komplexität des Gehirns lässt eine exakte Modellierung unrealistisch erscheinen. Doch die Technik stößt mittlerweile in Bereiche vor, die die Nachbildung von Hirnfunktionen im Computer in greifbare Nähe rückt. Inzwischen befasst sich ein ganzer Bereich der Hirnforschung, die „Computational Neuroscience“ damit, neuronale Netzwerke und ihren Aufbau zu verstehen und Computermodelle zur Nachbildung bestimmter Hirnfunktionen zu schaffen. Diese Möglichkeiten machte sich nun Dr. Alexander Ecker und Dr. Philipp Berens von dem Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften an der Universität Tübingen und das Forscherteam um Dr. Andreas Tolias vom Baylor College of Medicine in Houston zunutze. Während in Texas mit Hilfe fortgeschrittener Mikroskopier- und Schneidetechniken einzelne Nervenzellen aus dem Neokortex von Mäusen isoliert wurden, analysierten die Tübinger Forscher die Daten. Insgesamt wurden 2200 einzelne Zellen untersucht. Die Neurowissenschaftler sprechen von „Populationen“, die sie mit einem „Zensus“ erfassen – eine „Volkszählung“ im Gehirn sozusagen. Eine derart umfassende Untersuchung individueller Zellen war bisher nicht versucht worden. Bis vor Kurzem fehlten dazu sowohl die technischen Möglichkeiten als auch die der Analyse. Da bereits eine einzelne Nervenzelle ein hochkomplexes Gebilde ist, ist die Kategorisierung gleich einiger Tausend davon extrem aufwändig. Doch dem Forscherteam gelang es, Algorithmen zu entwickeln, die Zellen anhand ihrer Morphologie 15 verschiedenen Typen zuordnen können: eine für die Forscher überraschend große Zahl. Mit Diagrammen wie diesem halten die Forscher fest, wie die einzelnen Neuronen mit ihren Nachbarn verbunden sind. © CIN Die untersuchten Interneurone sind Nervenzellen, die keine Verbindungen zu anderen Hirnarealen herstellen, sondern sich mit ihrer „Nachbarschaft“ zu komplexen Schaltkreisen vernetzen, die bisher wenig untersucht sind. Die Forscher konnten nun erstmals genau nachvollziehen, welche der 15 Arten von Interneuronen mit welchen ihrer Nachbarn verbunden sind. „Konnektivität“ nennen sie die Verbindungseigenschaften von Nervenzellen. Die Forscher fanden Hinweise, dass die 15 Zelltypen sich drei Kategorien zuordnen lassen: Interneuronen, die nur mit ihresgleichen verbunden sind, Interneuronen, die nur einen anderen Zelltyp ansteuern (die sogenannten Pyramidalzellen), und solche, die mit allen Arten von Nachbarzellen Verbindungen eingehen.
Die Daten zur Konnektivität der Interneuronen können nun zur Erstellung von Computermodellen dienen. Wie immer streben die Forscher nach einem Modell, das die komplizierte Wirklichkeit möglichst vereinfacht, dabei aber noch aussagekräftig ist. Die Reduktion der 15 Typen auf drei Kategorien ist ein solcher Fall eines vereinfachten, aber aussagekräftigen Modells. Das ermöglicht weitgehende Schlüsse, so Philipp Berens: „Zum einen erlaubt uns so eine Arbeit, überhaupt zu verstehen, wie die Morphologie und die Konnektivität eines Zelltyps seine Funktion bestimmt. Zum anderen kann man sich fragen, ob diese Zelltypvielfalt für komplexe Berechnungen notwendig ist, oder ob es auch einfacher geht, bzw. wofür diese Vielfalt gut ist.“ Dazu gibt die nächste „Volkszählung“ vielleicht noch weitere Hinweise: „Vergleichende Studien zu anderen Hirnarealen und Spezies wären sehr interessant“, meint Alexander Ecker. „In Texas haben sie damit schon begonnen.“ Originalpublikation: Principles of Connectivity among Morphologically Defined Cell Types in Adult Neocortex Xiaolong Jiang et al.; Science; doi: 10.1126/science.aac9462; 2015