Viele Patienten halten Süßstoff in schwärmerischer Naivität für eine gesunde Alternative zu Zucker. Sie tappen häufig in die „zuckerreduzierte“ Falle. Diesen Irrtum müssen Ärzte immer wieder aufklären.
Eltern greifen gern zu Getränken mit Süßstoffen, wenn sie für ihre Kinder einkaufen. Ausschlaggebend sei einzig und allein die Kennzeichnung „zuckerreduziert“, kritisiert die Studienleiterin. Carissa Baker-Smith ist Pädiatrische Kardiologin an der University of Maryland. In einer aktuellen Studie werten sie und ihr Team wissenschaftliche Literatur zum Thema aus und leiten Empfehlungen ab. Ihre wichtigste Forderung: Alle Lebensmittel mit Süßstoffen müssen klarer als bisher gekennzeichnet werden.
Baker-Smith berichtet zwar aus pädiatrischem Blickwinkel, viele ihrer Ergebnisse lassen sich aber direkt auf Erwachsene übertragen. Beispielsweise fand sie in der Literaturanalyse keine Hinweise auf erhöhte Krebsrisiken. Früher oft genannte Assoziationen zwischen verschiedenen Tumoren seien mittlerweile widerlegt, heißt es im Artikel.
Schwieriger wird die Sache beim Effekt selbst. Konsumenten wählen Lebensmittel – allen voran Getränke – mit Süßstoffen aus, weil sie Kalorien sparen wollen. Tatsächlich belegen Untersuchungen an Patienten mit Adipositas einen geringfügigen Gewichtsverlust. Andere Untersuchungen liefern Hinweise, dass Personen mit leichtem Übergewicht eher zunehmen. Bereits 2017 hatte eine Review und Metaanalyse randomisierter, kontrollierter Studien gezeigt, dass eindeutige Belege zum Nutzen beim Gewichtsmanagement fehlen.
Wie lässt sich dieses Paradoxon erklären? Vermutlich veränderten sich der Appetit und das Geschmacksempfinden der Konsumenten, spekuliert Baker-Smith. Sie weist dabei auch auf Assoziationen zwischen dem Süßstoffkonsum und einem erhöhten Risiko für das metabolische Syndrom und Typ-2-Diabetes hin. Die entscheidende Frage, ob es sich um Kausalitäten handelt, bleibt derzeit aber noch offen.
Als mögliche Schnittstelle gilt das Darmmikrobiom. Laut einer Studie von 2015 können Süßstoffe zumindest bei Mäusen eine Glukoseintoleranz auslösen: Im Experiment veränderte sich die bakterielle Besiedlung ihres Darms. Die Ergebnisse einer weiteren Studie von 2018 zeigen außerdem eine geringere Vielfalt der Bakterienpopulation bei Versuchstieren auf.
Schäden am Gefäßendothel gelten – zumindest bei Aspartam (E 951) und Acesulfam (E 950) – als weitere Erklärung. Entsprechende Befunde kommen ebenfalls aus Tierexperimenten.
Auch Vasanti Malik von der Harvard T.H. Chan School of Public Health hat zur Erwachsenengesundheit im Zusammenhang mit Süßstoffkonsum geforscht. Er analysierte dazu die Daten zweier bekannter Kohorten: von 80.647 Frauen aus der Nurses’ Health Study (1980–2014) und von 37.716 Männern aus der Health Professionals Follow-up-Studie (1986–2014).
Wenig überraschend erhöhte sich die Gesamtmortalität bei 2 bis 6 zuckerhaltigen Getränken pro Woche (Hazard Ratio 1,06), bei 1 bis 2 Getränken pro Tag (HR 1,14) sowie bei mehr als 2 solcher Getränken pro Tag (HR 1,21), gemessen an der Gruppe mit weniger als einem zuckerhaltigen Getränk pro Monat.
Bei Personen mit hohem Konsum süßstoffhaltiger Getränke war die Gesamtsterblichkeit aber ebenfalls erhöht (HR 1,04). Auch hier bleibt die Frage nach Kausalitäten offen. Dennoch rät Malik, große Mengen künstlich gesüßter Getränke besser zu meiden. „Trinkwasser ist eine gesunde Wahl, die zu einem längeren Leben mit beitragen kann", sagt er in einer Meldung.
Ähnliche Assoziationen zeigten vor Jahren bereits Auswertungen der Framingham Heart Study. Demnach steht der langjährige Konsum süßstoffhaltiger Softdrinks mit einem höheren Risiko für ischämsiche Schlaganfälle (HR 2,96) und für Alzheimer-Demenzen (HR 2,89) in Verbindung.
Wie so oft haben Politiker das letzte Wort. Eine kleine Anfrage der Grünen bestätigt, was US-Pädiater bereits herausgefunden haben: Dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zufolge gebe es weiteren Forschungsbedarf, „um fundierte Schlussfolgerungen zu möglichen (langfristigen) gesundheitlichen Auswirkungen von Süßstoffen für verschiedene Gruppen der Bevölkerung abzuleiten.“ Auch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat begonnen, alle vor 2009 zugelassenen Substanzen zu bewerten.
Bis sich an der unklaren Studienlage etwas ändert, müsse das oberste Ziel sein, Zucker nicht durch womöglich bedenkliche Stoffe zu ersetzen – so Grünen-Politikerin Renate Künast in Zeit Online. Welche Alternativen das sein könnten, verrät Künast aber nicht.
Mein Vorschlag: Wie wäre es, beim Zucker zu bleiben – aber in Maßen? Denn allein die Dosis macht das Gift, wie schon Paracelsus wusste.
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