Ein Medikament für die Behandlung von Kleinwuchs, das sich in der klinischen Prüfung befindet, schlägt unerwartet hohe Wellen. Nicht wegen starker Nebenwirkungen, sondern weil Betroffene ihren „dwarf pride“ verletzt sehen.
Achondroplasie ist eine Form von dysproportionalem Kleinwuchs, bei der autosomal dominante Punktmutationen im Fibroblasten-Wachstumsfaktor-Rezeptor-3-Gen (FGFR-3) zu einer konstitutiven Aktivierung einer Rezeptor-Tyrosinkinase führen, wodurch die Umwandlung von Knorpel in Knochen verhindert wird.
Das macht sich vor allem an einem verminderten Längenwachstum der Röhrenknochen bemerkbar und führt dazu, dass Betroffene kurze Extremitäten haben und Männer nur eine Körpergröße von durchschnittlich 131 cm bzw. Frauen von 124 cm erreichen. In 80 Prozent der Fälle ist die Ursache eine Neumutation, und die Eltern sind von durchschnittlicher Körpergröße. Die Häufigkeit liegt bei 1/25.000-30.000, Achondroplasie zählt damit zu den seltenen Erkrankungen.
Obwohl Achondroplasie seit Langem bekannt ist, ist sie wissenschaftlich gesehen wenig erforscht, jährlich erscheinen weniger als hundert Publikationen bei PubMed darüber. Bis heute ist Achondroplasie nicht heilbar, sondern es lassen sich nur Folgeerkrankungen bekämpfen.
Ändern soll dies das Medikament Vosoritid (BMN 111) , das derzeit in mehreren klinischen Studien der Phasen 2 und 3 getestet wird. Der Wirkstoff bindet an einen spezifischen Rezeptor, wodurch über intrazelluläre Signale der überaktive FGFR3-Weg gehemmt wird.
Im Sommer wurden Ergebnisse einer multinationalen Phase-2-Studie zur Sicherheit und Dosisfindung mit 35 Kindern zwischen 5 und 14 Jahren veröffentlicht, die täglich Vosoritid in Form einer subkutanen Injektion bekommen hatten. In allen Fällen kam es zu Reaktionen und Rötungen an der Injektionsstelle. Eine Reihe weiterer milder bis moderater Nebenwirkungen, darunter niedriger Blutdruck und Fieber, wurden seltener beobachtet. Zu schwerwiegenden Ereignissen kam es bei vier Kindern (11 %), in einem Fall wurde die Therapie deshalb abgebrochen.
Die Studie lief über 42 Monate, in denen die jährliche Wachstumsgeschwindigkeit der Kinder anhaltend erhöht war. Mit der optimalen Dosis erreichten die Kinder annähernd die Wachstumsraten ihrer Altersgenossen von durchschnittlicher Körpergröße.
Ein Detail sollte bei der Diskussion nicht unerwähnt bleiben: Kleinwüchsige beurteilen ihre Situation laut einer Studie wesentlich besser als ihre nächsten Angehörigen: Trotz zahlreicher medizinischer Komplikationen, die im Laufe ihres Lebens immer wieder Operationen erforderlich machen, etwa um O-Beine zu begradigen oder Spinalkanalstenosen zu beseitigen, halten sie ihre Erkrankung viermal seltener für schwerwiegend als Verwandte ersten Grades und waren doppelt so oft der Meinung, dass Achondroplasie auch Vorteile mit sich bringe.
©Thomas Luft
Einige Betroffene nehmen trotzdem aufgrund fehlender Alternativen zur Behandlung langwierige und schmerzhafte Verlängerungen der Gliedmaßen auf sich, wodurch etwa zehn Zentimeter gewonnen werden, die darüber entscheiden können, ob sie den Geldautomaten oder eine Türklingel erreichen, im Supermarkt das nächste Regal zugänglich wird oder – im Falle der Arme – sie sich die Haare selbst waschen können. Diese Prozedur wirkt sich aber nicht auf die zahlreichen Begleiterscheinungen der Achondroplasie aus, zu denen Wirbelkanalstenosen, Hydrozephalus, Hypotonie, Rücken- und Beinschmerzen, wiederkehrende Mittelohrentzündungen, Sprachverzögerung sowie obstruktive Schlafapnoe und Ateminsuffizienz zählen.
Umso erstaunlicher erscheint es, dass besonders in den USA unter Kleinwüchsigen eine heftige Kontroverse um Vosoritid entbrannt ist.
Für tausende Betroffene ist der Kleinwuchs eher ein besonderes Merkmal denn eine behandlungsbedürftige Behinderung, und sie sind stolz darauf, sich mit und nicht wegen ihres Körpers zu entfalten. Für sie ist das Medikament eher eine Bedrohung, die ihre Besonderheit auslöschen könnte, und ein „Heilmittel“ für Menschen, die gar nicht krank sind: Ist es ethisch vertretbar, eine kleine Person größer zu machen?
Weil 80 Prozent der Eltern selbst keine Achondroplasie haben, befürchten sie, dass die Entscheidung über eine Therapie für betroffene Kinder von Menschen getroffen wird, die die Lebenswirklichkeit Kleinwüchsiger gar nicht beurteilen können. Kritisiert wird auch, dass in den klinischen Studien nur die Entwicklung der Körpergröße gemessen wird. Um Effekte auf Komplikationen wie Schlafapnoe, Hörverlust und Wirbelsäulenprobleme zu messen, müssten Langzeitstudien durchgeführt werden, die teuer und aufwändig sind – und eben lange dauern. Ein Vater, der mit der Idee der Forschungsförderung für Achondroplasie auf die LPA zuging, bekam von einem Mitglied zur Antwort: „Ich denke, was Sie tun, ist Völkermord.“
Andere wünschten, wirksame Behandlungen hätten schon früher zur Verfügung gestanden, so dass sie selbst davon profitiert hätten. Für viele Eltern ist es eine Quelle der Hoffnung, um das Selbstwertgefühl ihres Kindes zu stärken. Der Arzt Dr. John Phillips schilderte den tragischen Fall einer langjährigen Patientin mit einer inoperablen Stenose der Wirbelsäule. Sie starb nicht an medizinischen Komplikationen, sondern durch einen Sturz bei dem Versuch, eine zu hohe Toilette zu benutzen.
Online-Diskussionen über das Thema werden so hitzig, dass viele sich nicht trauen, ihre Meinung öffentlich zu äußern.
In Deutschland schlagen die Wellen nicht ganz so hoch. Auf einer Podiumsdiskussion in diesem Jahr wurden ebenfalls Bedenken geäußert, dass Eltern sich zu einer Behandlung gedrängt fühlen könnten und das gewonnene Selbstverständnis der Kleinwüchsigen ins Wanken gerate.
Ein Kinderarzt, Vater eines Kindes mit Achondroplasie, hoffte, dass durch eine medikamentöse Behandlung in Zukunft Operationen vermieden werden können. Ein weiterer Vater gab zu, froh zu sein, für seine bald erwachsene Tochter keine Entscheidungen mehr fällen zu müssen. Wahrscheinlich ist das der Kern des Problems, denn es handelt sich um eine Frage, bei der es kein Falsch oder Richtig gibt. Wie sich die Persönlichkeit ihres Kindes entwickelt, ob es gut oder schlecht mit der Behinderung zurechtkommen wird, ob es die Entscheidung der Eltern später für richtig hält, all das weiß man in dem Moment, wenn es drauf ankommt, nicht.
Eltern möchten das Beste für ihre Kinder, und aus ihrer Sicht ist das meistens nicht das Besondere, sondern das Normale. Dass ein Medikament verfügbar wird, stellt nicht in Frage, dass Menschen mit Achondroplasie, die selbstbewusst mit ihrer Behinderung umgehen, großen Respekt verdienen und „Durchschnittsgroße“ viel von ihnen lernen können.
Möglicherweise wird Vosoritid Leben retten, denn viele Eltern erfahren durch die Pränataldiagnostik schon früh in der Schwangerschaft, dass ihr Kind unter Achondroplasie leiden wird, was einen gesetzlich straffreien Schwangerschaftsabbruch rechtfertigt.
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