Die Leichenschau gehört zu den schwierigsten Aufgaben eines Arztes. Er steht zwischen trauernden Angehörigen und Polizeibeamten. Und die drängen manchmal darauf, einen natürlichen Tod zu bescheinigen – obwohl es vielleicht keiner war.
„Ich war gerade bei einer Prämedikationsvisite in der Klinik als ich über das Notarzttelefon alarmiert wurde“, erzählt der Narkosedoc, Anästhesist, Notarzt und Blogger. Zwei Minuten später war er am Auto, im digitalen Meldeempfänger die Meldung „Bewusstlose Person“.
Als das Team am Einsatzort eintraf, fanden sie eine tote Frau in ihrem Bett vor. Ein Polizeibeamter war bereits vor Ort. Die Augen der Frau waren weit aufgerissen, die Arme merkwürdig nach oben gestreckt, in den Augen kleine, punktförmige Einblutungen, sogenannte Petechien. Die Situation vor Ort kam dem Notarzt verdächtig vor. Der Polizeibeamte drängelte: „Hier haben wir es mit einer natürlichen Todesursache zu tun, tragen Sie das in den Totenschein ein“.
Der Narkosedoc ließ sich nicht beirren. Auch sein Team hatte das Gefühl, dass hier etwas nicht zusammen passt. Beim Rausgehen trafen sie auf eine Nachbarin. Auf die Frage, was passiert sei, antwortete der Rettungssanitäter, dass die Dame nebenan verstorben sei. „Sie ist tot? Das ist schon die dritte in diesem Jahr, die in dieser Wohnung stirbt“, sagte daraufhin die Nachbarin.
„Ich bin froh, dass ich mich in dieser Situation nicht habe bedrängen lassen“, erklärt der Narkosedoc, Anästhestist, Notarzt und Blogger. Man müsse aber bedenken, dass viele Notärzte Berufsanfänger seien und einige Polizisten ganz genau wissen, wie sie Druck ausüben könnten. Da hieße es dann: „Hömma, komm, mach doch mal eben die Leichenschau und dann trägst du da einen natürlichen Tod ein. Du bist doch auch nicht sicher, ob du wirklich alles richtig gemacht hast, nachher fragt noch einer nach“. So werde mögliches Fehlverhalten unterstellt und der Arzt eingeschüchtert.
In dem Fall der verstorbenen Patientin wurden im Anschluss Ermittlungen eingeleitet, der Narkosedoc bekam auf Nachfrage bei der Staatsanwaltschaft allerdings keine Auskunft, was mit der Frau geschehen war.
Die Leichenschau ist eine heikle Angelegenheit, bei der es an diversen Stellen zu Fehlern kommen kann. Bereits im Jahr 1997 förderte eine viel zitierte Studie der Rechtsmedizin Münster Erschreckendes zu Tage: Demnach soll auf jedes erkannte vorsätzliche Tötungsdelikt ein unerkanntes kommen.
Auch neuere Studien belegen, dass im Zusammenhang mit der Leichenschau nicht immer sauber gearbeitet wird. Die Rechtsmedizin der Universität Rostock nahm 10.000 Todesbescheinigungen aus dem Zeitraum von 2012 bis 2015 unter die Lupe und kam zu dem Ergebnis, dass lediglich 223 davon fehlerfrei waren. 27 Prozent aller Scheine wiesen mindestens einen schwerwiegenden Fehler auf. Und 50 Prozent aller Ärzte machten mindestens vier leichte Fehler pro Totenschein.
Zu den schweren Fehlern gehörten laut Publikation vor allem eine „nicht mögliche Kausalkette bei der Todesursache“ sowie fehlende Angaben zum entsprechenden Leichenschauarzt, wodurch dieser nicht erreichbar ist.
Inkorrekt ausgefüllte Totenscheine sind auch Dr. Detlef Günther, dem leitenden Oberarzt der Rechtsmedizin Hannover, vertraut. „Viele Ärzte machen den Fehler, einen natürlichen Tod zu bescheinigen, obwohl kausal ein nicht-natürlicher Tod vorliegt“. Wenn ein Patient beispielsweise aufgrund einer Verletzung (Trauma) bettlägerig geworden sei und sich in der Folge eine Lungenembolie entwickelt, die schließlich zum Tod geführt habe, handele es sich formal nicht um einen natürlichen Tod, da es hier äußere Einflüsse gegeben habe, die den Tod verursacht hätten.
Fakten zur Leichenschau
Die Beeinflussung durch Polizeibeamten – wie sie der Narkosedoc geschildert hat – ist ein weiterer Grund, warum die Totenscheine nicht sachgemäß ausgefüllt werden. „In den meisten Fällen befindet sich die Schutzpolizei bereits vor Ort“, erklärt der Narkosedoc. „Sobald der Arzt eine ‚ungeklärte Todesart‘ bescheinigt, handelt es sich um einen potenziellen Tatort, dann muss der Kriminaldauerdienst gerufen werden, auf den die Polizei vor Ort warten muss.“ Je nachdem, wo der Tote sich befindet, können mehrere Stunden bis zum Eintreffen der Kollegen vergehen, insbesondere auf dem Land. Eine ungeklärte Todesart bzw. Todesursache bedeutet also immer auch erheblich mehr Aufwand für die Polizisten.
„Manchmal sehe ich, dass das Kreuzchen auf dem Totenschein wohl zunächst bei ‚ungeklärter Todesart‘ gemacht und im Nachhinein noch geändert wurde,“ berichtet auch Günther. Das könne darauf hindeuten, dass der Arzt von außen beeinflusst wurde, das Kreuz doch an anderer Stelle zu setzen.
Ein weiteres Problem: Sobald der Notarzt eine Reanimation abbricht und den Patienten für tot erklärt, muss er der Leitstelle Bescheid geben, dass er wieder an anderen Orten eingesetzt werden kann. Er stellt dann nur eine vorläufige Todesbescheinigung aus, für die Leichenschau bleibt meist keine Zeit. Diese überlässt er einem anderen Arzt, um den sich die Polizei kümmern muss. Das kann der Hausarzt des Verstorbenen sein oder ein Polizeiarzt. Auch hier kann das weitere Prozedere viele Stunden in Anspruch nehmen.
Wenn Zeit ist, macht der Narkosedoc die Leichenschau aber auch selbst, er gibt jedoch zu bedenken, dass der Hausarzt sich für die Leichenschau am besten eigne, da er den Patienten gut kennt. „Ich setze das Kreuz fast nie bei ‚natürlich‘, als nicht behandelnder Arzt kenne ich die Umstände nicht und kann die Lage vielleicht nicht einschätzen.“
Doch auch für den Hausarzt ist die Leichenschau eine knifflige Angelegenheit. Eigentlich muss der Patient komplett entkleidet werden und der Arzt muss alle Körperöffnungen kontrollieren. Viele Hausärzte sind hier gehemmt, auch weil häufig Angehörige des Patienten anwesend sind.
In einer Studie aus dem Jahr 2001, in der 1.000 zufällig ausgewählte niedergelassene und im Krankenhaus tätige Ärzte befragt wurden, zeigte sich, dass nur ein Viertel der Befragten die Leiche vollständig entkleideten. Unter den befragten Hausärzten waren es nur 9 Prozent.
„Hier ergeben sich manchmal auch rein physikalische Schwierigkeiten“, gibt Annette Baumann zu bedenken. Sie ist Hausärztin in einer ländlichen Region. „Wie soll ich beispielsweise alleine einen 100 Kilo schweren toten Mann wenden?“ Manchmal müsse man hier sogar auf helfende Angehörige zurückgreifen.
Gibt der Hausarzt an, dass eine ungeklärte Todesart vorliegt, muss die Polizei gerufen werden. Das verunsichert Angehörige in einer ohnehin schwierigen Situation zusätzlich. Und manchmal erschwert die Polizei die Arbeit obendrein. Baumann berichtet von einer Situation, in der sie gegen zwei Uhr nachts zu einer Familie gerufen wurde. Der Vater war vor dem Fernseher auf dem Sofa verstorben: 60 Jahre alt, keine Vorerkrankungen, keine Medikamente und auch kein bekannter Hausarzt. „Eine Situation, die erstmal unerklärlich für mich ist. Außerdem wirkte die Familie merkwürdig gefasst auf mich“, erzählt Baumann. Als sie die Polizei anrief, fragten die Beamten zunächst nach, ob das Erscheinen der Polizisten wirklich nötig sei. Auf Beharren der Ärztin willigten sie ein zu kommen, gaben aber zu bedenken, dass es dauern könnte.
Nach mehreren Stunden, in denen Baumann mit den Angehörigen und dem Toten in einem Raum wartete, traf die Polizei schließlich ein und schlug ihr vor, eine natürliche Todesart in den Schein einzutragen – sie würden dann anschließend noch mal prüfen, ob vor Ort irgendetwas merkwürdig sei.
Wann sollte der Arzt skeptisch werden?
Um den vielen Ungenauigkeiten rund um den Totenschein entgegen zu wirken, gibt es in Niedersachen seit Kurzem ein neues Bestattungsgesetzes und ein neues Formular der Todesbescheinigung. Statt unter drei Möglichkeiten der Todesart (natürlich, nicht natürlich, ungeklärt) eine auszuwählen, gibt es hier jetzt neun meldepflichtige Punkte, die angekreuzt werden können: Zum Beispiel dann, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass „der Tod während eines operativen Eingriffs oder innerhalb der darauf folgenden 24 Stunden eingetreten ist“ oder wenn „die verstorbene Person das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat“. Trifft einer der Punkte zu, gibt es eine Meldepflicht. „Hier wurde die Leichenschau präzisiert und das verleiht jetzt Sicherheit – auch den Ärzten“, sagt Günther, da es nun fast keine subjektiven Spielräume mehr gibt. Bei Zuwiderhandlungen steht ein Bußgeld von 5.000 Euro an.
„Das neue Gesetz ist eine Reaktion auf Niels Högel, der in Norddeutschland zahlreiche Patienten getötet hat“, erklärt Günther. Er findet die Neuregelung sinnvoll: „Vielleicht rüttelt sie wach und regt stärker dazu an, von Anfang an sorgfältig zu arbeiten.“
In Bremen wurde 2017 die qualifizierte Leichenschau eingeführt. Seitdem muss jeder Tote von einem Rechtsmediziner oder einem entsprechend weitergebildeten Arzt untersucht werden. Erst danach darf der Leichnam zur Bestattung freigegeben werden. Eine Regelung, die wohl nur für ein so kleines Bundesland wie Bremen denkbar ist – und selbst hier einen enormen organisatorischen Aufwand darstellt.
Bei einer Kremation des Leichnams ist in allen Bundesländern, bis auf Bayern, eine zweite amtsärztliche Leichenschau vorgesehen. „Hier fische ich regelmäßig Totenscheine raus, auf denen ein natürlicher Tod vermerkt ist, obwohl es laut Eintragung keiner war“, sagt Günther. In vielen Fällen sei der Totenschein formal nicht korrekt ausgefüllt. Günther nennt wieder ein Beispiel: Ein Patient könne sich den Oberschenkelhals gebrochen haben, anschließend eine Pneumonie entwickelt haben und daran gestorben sein. Das sei aber kein natürlicher Tod. Vielleicht liege sogar ein Fremdverschulden vor: Ist der Patient vielleicht geschubst worden? Oder ist er im Winter gestürzt, weil jemand seinen Bürgersteig nicht gestreut hat? Ärzte, die man darauf aufmerksam mache, entgegneten häufig, dass dies doch trotzdem ein natürlicher Verlauf sei. „Allerdings heißt das nicht, dass es auch ein natürlicher Tod ist“, so Günther. Diese Fälle werden der Polizei für weitergehende Ermittlungen gemeldet, unter Umständen muss dann sogar obduziert werden.
Um derartige Fehlern auf die Spur zu kommen, eventuell sogar Tötungsdelikte aufzudecken, wäre es sinnvoll, auch vor Erdbestattungen eine zweite Leichenschau einzuführen, findet Günther. „Ich bin mir sicher, dass das eine oder andere Verbrechen mit beerdigt wird.“
„Die Toten haben wenig Chancen, dass ein Verbrechen aufgeklärt wird, sobald der Arzt sein Kreuz einmal bei der natürlichen Todesart gemacht hat“, sagt auch der Narkosedoc. Er und Prof. Günther sind sich einig: „Als Arzt ist man in dieser Situation auch der Anwalt der Toten.“
Beide betonen aber auch, dass die Zusammenarbeit mit der Polizei überwiegend produktiv sei und es sich wohl nur um unangenehme Einzelfälle handele. Dennoch sollte man sich als Arzt nie in seine Arbeit reinreden lassen. „Am Ende steht auf dem Totenschein schließlich nur die eigene Unterschrift“, so Günther.
Annette Baumann fände es sinnvoll, die Leichenschau entweder nur von Profis durchführen zu lassen oder die anderen Ärzte ihre Ausbildung in diesem Bereich intensivieren zu lassen. „An so eine Fortbildung zu kommen, ist gar nicht so leicht.“
Ein entsprechendes Angebot findet man bei einigen Ärztekammern. „Es wäre schön, wenn solche Fortbildungen für Blaulicht- und Hausärzte verpflichtend wären“, sagt Günther dazu.
„Ich finde es vor allem wichtig, dass man sich seiner eigenen Kompetenzgrenzen bewusst ist, im Zweifel eher ‚ungeklärt‘ ankreuzt und die Kollegen, die hierfür ausgebildet sind, ihre Arbeit machen lassen“, rät der Narkosedoc.
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