Gerade bei kleinen Patienten benötigen Pädiater Allgemeinanästhesien, um Eingriffe erträglicher zu machen. Ob die verwendeten Pharmaka zu negativen Folgen für das kindliche Gehirn führen, ist wissenschaftlich umstritten. Fachgesellschaften warnen vor Panikmache.
Seit Jahren diskutieren Anästhesisten kontrovers, ob Narkosen dem sich entwickelnden Gehirn schaden. Zwei Details erschweren die wissenschaftliche Klärung: Schwere Vorerkrankungen, die letztlich eine OP erforderlich machen, könnten Effekte verzerren. Und histologische Untersuchungen sind nur im Tiermodell möglich. Ein Überblick zum Stand des Wissens.
Bereits im Jahr 2003 untersuchte Vesna Jevtovic-Todorovic, Charlottesville, wie Anästhetika auf das Gehirn junger Ratten wirken. Sie testete Flurane, Lachgas und Midazolam als Substanzen, die Ärzte häufig bei Kindern verwenden. Durch die Narkose gingen Nervenzellen im Hippocampus zugrunde. Bei Versuchstieren traten Lern- und Gedächtnisstörungen auf. Arzneimittelzulassungsbehörden, allen voran die Food and Drug Administration (FDA), wurden aufmerksam. Bald darauf analysierte FDA-Experte Bob Rappaport, Silver Spring, etliche Veröffentlichungen. Sein Resümee: Isofluran oder Ketamin führen zur Apoptose unreifer Oligodendrozyten. Gleichzeitig veränderten sich synaptische Strukturen. Bleibt als Einschränkung, dass Wissenschaftler derartige Effekte vor allem bei Nagern, gelegentlich auch bei Primaten, sahen. Ergebnisse aus randomisierten Studien fand Rappaport nicht. Er schreibt, epidemiologische Daten lieferten kein klares Bild. Der Forscher zitiert eine Kohortenstudie mit 383 Kindern. Sie mussten sich in den ersten drei Jahren ihres Lebens Hernien-OPs unterziehen. Verglichen mit Probanden ohne Eingriff kam es in der Anästhesiegruppe 2,3-mal häufiger zu Entwicklungsstörungen. Robert T. Wilder aus Rochester (Minnesota) fand ähnliche Hinweise in einer Kohorte mit 5.357 Kindern. Ärzte operierten 593 Patienten unter vier Jahren. Wer zwei oder mehr Vollnarkosen bekam, hatte signifikant häufiger mit Lernschwächen zu kämpfen.
Greg Stratmann aus San Francisco sieht anders als Robert T. Wilder bereits unerwünschte Auswirkungen einzelner Inhalationsnarkosen. Zusammen mit Kollegen untersuchte er 56 Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren. Von ihnen hatte die Hälfte im ersten oder zweiten Lebensjahr eine Anästhesie erhalten. Stratmann setzte verschiedene Gedächtnistests auf Basis von Zeichnungen ein. Kinder ohne Anästhesie erzielten bessere Ergebnisse bei der Komponente „Wiedererkennung“, aber nicht bei der „Vertrautheit“ mit Bildern. Ähnliche Befunde ließen sich mit Ratten reproduzieren. Doch zurück zu kleinen Patienten: Der IQ war in beiden Gruppen vergleichbar. Anschließend griffen Forscher zur Child Behavior Checklist, um mögliche Verhaltensauffälligkeiten nachzuweisen. Auch hier zeigten sich in der Narkosegruppe keine Anomalie. Ob sich aus dem Bildertest klinisch relevante Effekte ableiten lassen, bleibt auch nach Stratmanns Arbeit offen.
Forscher ließen trotzdem nicht locker. Sie hatten immer noch Jevtovic-Todorovics Arbeit vor Augen. Bei Ratten gingen Nervenzellen zugrunde – und bei Kindern? Barynia Backeljauw, Ohio, untersuchte im Rahmen einer Fall-Kontroll-Studie 53 Kinder [Paywall]. Alle Probanden hatten in den ersten vier Jahren eine Vollnarkose erhalten. Dem standen gleich viele Kinder ohne Eingriff gegenüber. Anästhesien verlangsamten die Sprachentwicklung und führten zu Defiziten beim Intelligenzquotienten, schreiben Wissenschaftler. Gleichzeitig sahen sie im MRT Veränderungen der grauen Substanz der Großhirnrinde. Entsprechende Schäden waren deutlich geringer als in früheren Tierexperimenten. Schön und gut, nur hält sich die Aussagekraft von Backeljauws Arbeit in Grenzen. Sie hat vergleichsweise wenige Teilnehmer rekrutiert. Gleichzeitig litten alle kleinen Patienten an Erkrankungen des HNO-Bereichs, was per se schon Folgen für die Sprachentwicklung haben könnte. Weiterhin bleibt unklar, ob die postulierte Neurotoxizität tatsächlich auf Anästhetika zurückzuführen ist.
Ärzte fragen sich angesichts der Veröffentlichungsflut, welches Fazit sie für die Praxis ziehen sollten. Grund genug für die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), den wissenschaftlichen Arbeitskreis Kinderanästhesie der DGAI und den Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA), eine Stellungnahme zu verfassen. „Anästhetika haben im Tiermodell zahlreiche unterschiedliche Effekte auf das ZNS“, lautet das gemeinsame Fazit. „Für eine Assoziation zwischen Anästhesie und neurologischer Entwicklung jedoch gibt es nach wie vor keine klare Evidenz.“ Aus ethischen Gründen sind randomisierte klinische Studie mit Anästhesieverzicht beziehungsweise Anästhesieexposition undenkbar. Retrospektive Kohortenstudien beim Menschen liefern konträre Ergebnissen. Die bislang hochwertigste Arbeit wurde beim Kongress Euroanaesthesia 2015 vorgestellt. Schwedische Forscher verglichen Daten von 34.480 Kindern, die bis zum vierten Lebensjahr eine Narkose erhalten hatten, mit gleichaltrigen Probanden ohne Eingriff. Anästhetika hatten nur wenig Einfluss auf spätere Leistungen in der Schule. Viel wichtiger waren Faktoren wie das Geschlecht des Kindes, die mütterliche Ausbildung oder das Einschulungsalter.