Der Freitagnachmittag ist ein schlechter Zeitpunkt, um Medikamente in der Apotheke zu bestellen. Kein Arzt steht mehr für Rückfragen zur Verfügung. Und dann geht es ausgerechnet um Venlafaxin.
Es gibt Patienten, denen immer am Freitagnachmittag einfällt, dass sie dringend noch ein verschreibungspflichtiges Medikament aus der Apotheke benötigen. Immer dann, wenn der Arzt nicht mehr zu erreichen ist. Natürlich gibt es auch solche, die ihre Medikamentenliste pflegen und rechtzeitig für Nachschub sorgen. Äußerst beliebt bei Apothekern sind übrigens die letzteren.
Doch wenn der Hersteller die Arzneimittel nicht liefern kann, ist es eigentlich egal, ob der Patient sich rechtzeitig bemüht hat oder nicht.
Nach einer längeren Pause stehe ich wieder im weißen Kittel in der Apotheke, es ist ein Freitagnachmittag. Eine freundliche Frau kommt mit zwei Rezepten in die Apotheke und lässt sich von mir bedienen. Unter anderem braucht sie Venlafaxin 37,5 mg Retardkapseln und davon 100 Stück. „Schauen Sie doch bitte, ob Sie alles da haben“, sagt sie. Während ich im Computer nach den verordneten Arzneimitteln suche, ist sie mit dem Handy beschäftigt: „Venlafaxin dürfte von diesem Hersteller zu haben sein“, sagt sie und hält mir das Handy hin. Sie habe diese Information aus einer App. Die Patienten nehme das Medikament schon länger und sei gut darauf eingestellt, berichtet sie.
In der Zwischenzeit klappere ich alle Packungsgrößen und Stärken im System ab. Ergebnis: Von Venlafaxin sind nur 75 mg unretardierte Tabletten und von diesen nur 20 Stück zu bekommen. Zunächst kam die Idee der Überbrückung auf – zumindest für ein paar Sekunden. Doch das ist aus pharmakologischer Sicht schwierig, denn retardierte Kapseln sind bei fünf Indikationen, unretardierte Tabletten hingegen bei zwei Indikationen zugelassen. Vor allem erhöht die Retardierung die Verträglichkeit und hat daher einen Sinn und Zweck.
Tabletten statt Kapseln? Aus Sicht der Patientin kein Problem. Sie würde auch Tabletten einnehmen und diese könnte man vorher teilen, denn teilbar sind sie laut Gelber Liste. Ich versuche ihr aber zu erklären, dass es durch die schnelle Freisetzung des Wirkstoffs aus der Tablette möglicherweise zu verstärkten Nebenwirkungen kommen könnte. Sie nickt, aber so ganz zufrieden ist sie mit der Situation noch nicht. Eine Abgabe ohne ärztliche Rücksprache ist aufgrund der pharmakokinetischen Unterschiede der beiden Arzneiformen und der kritischen Indikation keine Option.
Da der Arzt nicht mehr zu erreichen ist, will die Patientin die Alternativen in den nächsten Tagen mit ihm persönlich besprechen. Auf welche Wirkstoffe kann sie umsteigen? Vom Rezeptor-Bindungsprofil her ist Venlafaxin am ehesten mit Duloxetin vergleichbar. Anhaltspunkte für die Dosierung kann man bei Jan Dreher auf dem Blog finden.
„Ohne Venlafaxin geht es mir schlecht“
Lieferengpässe gehören inzwischen zu unserem täglichen Brot. 269 Arzneimittel sind aktuell laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArm) nicht verfügbar, darunter auch Venlafaxin. Wahrscheinlich sind es noch mehr Medikamente, die fehlen, denn die Hersteller sind noch nicht gesetzlich verpflichtet, einen Engpass zu melden. Manche Präparate mit dem Wirkstoff sind voraussichtlich erst im November 2020 wieder erhältlich. Für Patienten, aber auch für Ärzte und Apotheker, eine mehr als unbefriedigende Situation.
Während unseres Gesprächs vertraut mir die Patienten an, dass ein Absetzen „Folgen“ für sie haben könnte. Was meint sie damit genau? „Ohne Venlafaxin geht es mir schlecht“, sagt sie und ohne die Kapseln bemerke sie „Veränderungen“ bei sich.
Was heißt das? Kommt es zu Suizidgedanken? Fälle von suizidalen Gedanken oder suizidalem Verhalten sind kurze Zeit nach Beendigung der Behandlung mit Venlafaxin berichtet worden, so heißt es schließlich auch in der Fachinformation. Vielleicht interpretiere ich auch zu viel hinein, denn weitere Details bleiben mir verborgen, aber etwas Sorge bleibt.
Die Patientin muss ich trotzdem vorerst ohne Medikament nach Hause schicken.
Bildquelle: Carla Cervantes, unsplash