Patienten fordern Untersuchungen und Rezepte. Ärzte geben oft nach – auch, weil keine Zeit für Erklärungen bleibt. Was kommt dabei raus? Medizinische Überversorgung. Ist es so einfach?
„In Deutschland wird unnötig diagnostiziert und operiert.“ Mit diesem Satz beginnt die Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung, die heute veröffentlicht wurde. In der Überschrift heißt es: „Überversorgung im Gesundheitssystem schadet den Patienten.“ Viele Medien greifen die Meldung auf und spitzen sie zu:
Zu viel Medizin schadet Patienten und Ärzten (n-tv)
Zu viele unnötige Operationen (Deutschlandfunk)
Liest man die Überschriften und überfliegt die Meldungen, stellt sich direkt ein vertrautes Gefühl ein. Klar, in Deutschland wird zu viel operiert, es werden ständig Leistungen erbracht, damit Ärzte und Krankenhäuser gut verdienen. Kein Wunder, dass Deutschlands Gesundheitssystem aufgebläht ist und das teuerste in der EU überhaupt. Die höchste Dichte an Krankenhausbetten hat Deutschland natürlich auch.
Guckt man sich die Studie genauer an, wird eines deutlich: Beim Thema Überversorgung geht es nicht nur um Profit. Es geht vor allem um Ängste und Erwartungen seitens der Patienten. Und es geht um Druck, den Ärzte verspüren.
Was bedeutet das konkret? Die Bertelsmann-Stiftung hat das Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) damit beauftragt, Beispiele für zu häufig erbrachte medizinische Leistungen zusammenzutragen.
Wie sieht es zum Beispiel bei der Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung aus? Dabei handelt es sich um eine IGeL-Leistung. Die Recherche zeigt: Etwa jede 13. Frau ab 35 Jahren bezahlte privat für einen Ultraschall der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung – das sind schätzungsweise 2,1 Millionen Untersuchungen im Jahr 2018. Fazit der Experten: Ultraschalluntersuchungen der Eierstöcke als IGeL sind nicht leitliniengerecht und steigern die Gefahr falsch-positiver Diagnosen sowie unnötiger und risikoreicher operativer Folgeeingriffe.
So eine Untersuchung wird also ganz klar unter dem Stichwort Überversorgung diskutiert. Wie kommt es aber dazu? Geht es dabei nur um Profit?
Die Bertelsmann Stiftung ließ Ärzte und Patienten zu Wort kommen. Sie beauftragte das Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold mit der Durchführung qualitativer Tiefeninterviews mit 24 Patienten und 15 Ärzten. Das Bielefelder Marktforschungsinstitut Kantar hat zudem eine Bevölkerungsbefragung vorgenommen und 1.004 Personen über 18 Jahren befragt.
Das Ergebnis ist beinah skurril: Auf der einen Seite vermuten 83 Prozent der Bevölkerung, medizinisch unnötige Leistungen würden durchgeführt, weil Ärzte und Krankenhäuser gut daran verdienen. Auf der anderen Seite zeigen die Einzelinterviews, wie stark Patienten diese „unnötigen Leistungen“ einforden.
„Ich habe bei den Ärzten schon oft durchgesetzt, dass ich ein MRT oder CT oder Blutbild brauche“, sagt ein Patient.
oder
„Ich bin noch nie ohne Rezept nach Hause gegangen. Das gibt mir ein gutes Gefühl: ernst genommen zu werden“, sagt ein anderer.
Diesen Druck seitens der Patienten spüren vor allem die Ärzte: 63 Prozent der Ärzte meinen, unnötige Maßnahmen erfolgen auf Druck der Patienten.
Und was sagen die Ärzte konkret in den Einzelinterviews?
„Ich habe maximal 15 Minuten pro Patient. Da wägt man schon ab, rede ich ihm das gewünschte Antibiotikum aus oder gebe ich es ihm einfach? Wenn Hoffnung auf Einsicht besteht, versuche ich es“, sagt ein Arzt.
„In meinem Job werden Fehler sofort bestraft, da macht man lieber eine Diagnostik zu viel als zu wenig“, sagt ein anderer Arzt.
Patienten sind dabei oft von ihrer Angst getrieben.
Je größer die Angst vor einer bestimmten Erkrankung ist, desto größer ist der Wunsch nach zusätzlichen Untersuchungen oder vorsorglichen Maßnahmen – und umso geringer ist das Bewusstsein der Patienten dafür, dass die erwünschte Leistung nicht notwendig sein könnte.
Das zeigt auch die Befragung: 56 Prozent der Bevölkerung meinen, jede Therapie sei besser als Abwarten. Im Einzelinterview sagt ein Patient: „Ich bin für spezielle Tests gern bereit zu zahlen, um etwas auszuschließen.“
Für Ärzte ist es dann nicht leicht, mit Argumenten zum Patienten durchzudringen. Dass „ein Zuviel“ sogar schaden kann, wollen die Patienten dann nicht hören. In der Befragung gaben sie an, sich dann abgefertigt und schlecht behandelt zu fühlen, wenn ein Arzt sich zu wenig Zeit für Erklärungen nimmt oder keine medizinischen Maßnahmen einleitet.
Im Einzelinterview sagt ein Arzt:
„Ich rate Patienten tatsächlich oft zu ‚Abwarten und Tee trinken‘. Manche gucken mich an, als sei ich bekloppt.“
Zusammenfassend lässt sich sagen: Eine Mehrheit der Deutschen glaubt, dass beim Arzt oft überflüssige Untersuchungen und Behandlungen durchgeführt werden. Allerdings sieht kaum jemand das Problem bei sich selbst. Stattdessen wird vermutet, dass Kliniken und Arztpraxen oft unnötige medizinische Leistungen erbringen. In Diskussionen über Deutschlands überteuertes Gesundheitssystem werden ja auch gerne falsche Vergütungsanreize für Ärzte und Kliniken genannt. Die Befragungen der Ärzte und Patienten zeigen aber ganz deutlich, dass sich jeder an die eigene Nase fassen muss. Ängste und Erwartungen der Patienten, aber auch seitens der Ärzte, die diesen Erwartungen entsprechen müssen oder wollen, spielen eine große Rolle beim Thema Überversorgung.
Die Redaktion interessiert: Wie erlebt ihr das in Klinik und Praxis? Spürt ihr auch den Druck und die Erwartungen?
Bilquelle: Branden Williams, flickr