Patienten mit alkoholbedingten Entzugssymptomen sind auf der Intensivstation nicht selten. Die Behandlung wird jedoch sehr unterschiedlich gehandhabt. Wie sieht ein geeigneter Umgang mit dem Alkoholdelir aus?
Kommt ein Patient auf die Intensivstation, etwa mit schweren Verletzungen oder einer schwerwiegenden Erkrankung, ist schnelles und angemessenes Handeln gefragt. Bei manchen Patienten kommt erschwerend hinzu, dass sie zu diesem Zeitpunkt unter Alkoholeinfluss stehen – oder durch den plötzlichen Wegfall von Alkohol eine Entzugssymptomatik entwickeln. Andererseits kann auch eine akute, schwere Entzugssymptomatik der Grund für die Behandlung auf der Intensivstation sein. Die Symptomatik richtig einzuordnen und zu behandeln ist nicht einfach, weil die Betroffenen oft nicht oder nur begrenzt ansprechbar sind.
Und solche Fälle sind gar nicht so selten. Insgesamt besteht bei etwa 1,6 Millionen Menschen (3,1 Prozent) in Deutschland im Alter von 18 und 64 Jahren ein Alkoholmissbrauch und bei 1,8 Millionen (3,4 Prozent) eine Alkoholabhängigkeit. In Studien wird geschätzt, dass bei 11 Prozent der Patienten, die in ein Krankenhaus eingeliefert werden und bei 14 Prozent der Patienten, die auf eine Intensivstation kommen, Substanzmissbrauch eine Rolle spielt – am häufigsten der Missbrauch von Alkohol.
Der Umgang mit der Entzugssymptomatik, insbesondere mit schweren Symptomen, wird jedoch je nach Einrichtung unterschiedlich gehandhabt, wie Studien aus den USA und Kanada zeigen. So untersuchte ein Team um Karen Burns von der University of Toronto mithilfe eines Fragebogens, wie Ärzte bei der Behandlung einer schweren akuten Alkoholentzugs-Symptomatik vorgehen. Von den 105 teilnehmenden Ärzten setzen 39 Prozent als Zusatzmedikation zu GABAergen Substanzen wie Benzodiazepine, das Antipsychotikum Haloperidol, 30 Prozent den Alpha-2-Agonisten Clonidin, 28 Prozent das Narkosemittel Propofol und 27 Prozent das Barbiturat Phenobarbital ein – ein starkes Schlaf- und Beruhigungsmittel.
Ein aktueller Artikel von Madeline Foertsch und ihre Kollegen vom UC Health – University of Cincinatti Medical Center in Ohio (USA) berichtet, dass bei akuten Alkoholentzugssymptomen auf Intensivstationen als Zusatzmedikation Antipsychotika wie Haloperidol, Narkosemittel wie Propofol oder Ketamin, das Beruhigungs- und Narkosemittel Dexmedetomidin und Barbiturate eingesetzt werden. Robuste Daten zu Nutzen und Risiken dieser Substanzen bei der Behandlung des akuten Alkoholentzugs würden jedoch fehlen, betonen die Forscher.
Auch in der S1-Leitlinie „Alkoholdelir und Verwirrtheitszustände“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) heißt es, dass die Behandlung schwerer Entzugssymptome, beispielsweise eines Delirs, sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Was ist von den unterschiedlichen Vorgehensweisen zu halten – bei denen zum Teil auch starke Medikamente zum Einsatz kommen? „Der hohe Anteil an eingesetzten Narkosemitteln und an Phenobarbital überrascht“, sagt Norbert Wodarz. Er ist Chefarzt des Zentrums für Suchtmedizin und stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum. „Man muss sich aber vor Augen halten, dass es in den Studien meist um eine schwere Alkohol-Entzugssymptomatik ging. Diese wurde häufig nicht von einem Entzugsdelir abgegrenzt, das ja die stärkste Form des Alkoholentzuges darstellt. Das erklärt möglicherweise, warum relativ häufig starke Medikamente eingesetzt wurden.“
In Deutschland seien Barbiturate wie Phenobarbital nicht gebräuchlich, so der Suchtexperte. „Es gibt auch keinen Grund, sie einzusetzen, denn sie können starke Nebenwirkungen haben und haben keinen größeren Nutzen als Benzodiazepine“, so Wodarz. Auch Narkosemittel, die zur Einleitung einer Kurznarkose verwendet werden, werden hierzulande höchstens bei sehr schweren Entzugsverläufen eingesetzt – und auch sie können zu Komplikationen führen. „Möglicherweise gibt es auf den Intensivstationen in den USA eine andere Praxis beim Umgang mit diesen Patienten“, vermutet Wodarz. „Dort will man vielleicht eher Patienten, die ‚nicht stören‘. Und ein sedierter, beatmeter Patient ist den Ärzten möglicherweise lieber als ein zeitweise unruhiger Patient.“
Wie sieht nun eine geeignete Behandlung einer akuten Alkoholentzugssymptomatik aus? „Wichtig ist zunächst, dass Ärzte auf Intensivstationen daran denken, dass Alkohol im Spiel sein könnte und auch einmal eine Entzugssymptomatik auftreten kann“, sagt Wodarz. „Sie sollten die Symptome eines Alkoholentzugs kennen, die aktuellen Symptome richtig einordnen und sie frühzeitig und angemessen behandeln.“ Zur Einschätzung der Symptome können insbesondere weniger erfahrene Ärzte Skalen wie die Alkohol-Entzugssyndrom-Skala (AES-Skala) oder die CIWA-AR (Clinical Institute Withdrawal Assessment Scale) verwenden, die vegetative und psychische Symptome erfassen. Ausgehend von Art und Schweregrad der Symptome lassen sich aus den Skalen auch sinnvolle Dosierungen für die Behandlung ableiten.
So gibt es beim Alkoholentzug unterschiedliche Schweregrade und Verlaufsformen, die unterschiedlich behandelt werden sollten. Bei einem frühen oder milden Entzug lassen sich eine milde Agitation, psychomotorische Unruhe, Angst, Zittern (Tremor) und Schlaflosigkeit beobachten. Außerdem kann es zu Krampfanfällen kommen. Bei einem schweren oder späten Entzug kommt es neben extremer Agitation zu Verwirrtheit, Desorientierung und einer gestörten Sinneswahrnehmung – den typischen Symptomen eines Delirs, das lebensgefährlich sein kann.
„In der Praxis kommt eine schwere Entzugssymptomatik mit einem Delir relativ selten vor“, berichtet Wodarz. „Meist setzen die vegetativen Entzugssymptome allmählich ein. Wenn man diese rechtzeitig erkennt und behandelt, verläuft der Entzug in der Regel nicht so schwer.“ Risikofaktoren für eine schwere Entzugssymptomatik sind hohe Alkoholtrinkmengen, starke Entzugssymptome zum Zeitpunkt der Aufnahme, der gleichzeitige Konsum von Drogen oder Benzodiazepinen sowie eine Vorgeschichte mit schweren Entzugsverläufen, Krampfanfällen oder Delirien.
Bezogen auf ein Delir als schwerste Ausprägung einer Entzugssymptomatik empfiehlt die S1-Leitlinie „Alkoholdelir und Verwirrtheitszustände“, ein unvollständiges Delir sowie das Vollbild eines Delirs mit oralen GABAergen Substanzen wie Clomethiazol oder Benzodiazepinen zu behandeln. Nur bei ausgeprägten Halluzinationen und Erregungszuständen sollte zusätzlich ein Neuroleptikum wie Haloperidol gegeben werden. Bei einem sehr schweren Delir sollten die Behandlung auf der Intensivstation erfolgen und die Medikamente per Infusion gegeben werden. Weiterhin gebe es bei Patienten, die auf diese Behandlung nicht ansprechen, erste Erfolge mit Propofol und Dexmedetomidin, so die Leitlinie. „Aus meiner Sicht gibt es jedoch keine Notwendigkeit, Dexmedetomidin einzusetzen, da andere Substanzen wie zum Beispiel Clonidin genauso wirksam sind “, sagt Wodarz.
Bei einem leichter ausgeprägten Entzug geht es in erster Linie darum, die Entzugssymptome zu lindern und schwere Entzugssymptome wie Krampfanfälle oder ein Delir zu vermeiden. „In Deutschland erhalten die Patienten hier in erster Linie GABAerge Substanzen wie Clomethiazol oder Benzodiazepine, die durch ihre dämpfende Wirkung Symptome wie Agitation, Angst und Unruhe lindern“, erläutert Wodarz. Sowohl Clomethiazol als auch Benzodiazepine reduzieren laut der (abgelaufenen) S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ die Schwere und Häufigkeit von Entzugssymptomen sowie die Häufigkeit schwerer Symptome wie Krampfanfälle oder Delir. „Zur Linderung der vegetativen Symptome wird häufig der Alpha-2-Agonist Clonidin gegeben, bei dem Wirkprofil und Nebenwirkungen gut bekannt sind“, berichtet Wodarz.
Wenn die Patienten bereits Benzodiazepine erhielten, sei ein Antiepileptikum zur Vorbeugung eines Krampfanfalls in der Regel nicht notwendig, so der Suchtmediziner – denn Benzodiazepine senken bereits die Wahrscheinlichkeit eines Anfalls. „Allerdings kann es sein, dass ein Patient, der sehr viel trinkt, schon Entzugssymptome zeigt, wenn er noch einen relativ hohen Blutalkoholspiegel hat – beispielsweise bei einem Promille“, sagt Wodarz. „Dann ist der Einsatz eines Antiepileptikums sinnvoll, weil die Gabe von Benzodiazepinen zu Wechselwirkungen mit dem Alkohol führen kann.“ Bei einem Delir hält der Suchtexperte zusätzlich zu Clomethiazol oder Benzodiazepinen ein Antipsychotikum wie Haloperidol in niedriger Dosierung für sinnvoll. Es sollte jedoch mit Vorsicht und nicht bei einer Symptomatik ohne Delir oder Halluzinationen eingesetzt werden.
Darüber hinaus sollte beim Entzug darauf geachtet werden, dass der Patient keine Folgestörung entwickelt, betont Wodarz. „Viele Betroffene haben sich über längere Zeit quasi nur noch flüssig ernährt. Dadurch haben sie deutliche Elektrolytstörungen und Mangelerscheinungen, insbesondere einen Vitamin-B1-Mangel“, sagt Wodarz. „Diese sollten überwacht und behandelt werden, um zu vermeiden, dass es zu einer Wernicke-Enzephalopathie kommt.“ Daher sollten die Patienten ab dem Zeitpunkt der Aufnahme Vitamin B1 erhalten – bei ihnen auf der Suchtstation sei das routinemäßig der Fall. „Gibt der Arzt eine Glukose-Infusion, muss er unbedingt zusätzlich Vitamin B1 geben, da die Infusion das letzte vorhandene Vitamin B1 verbrauchen kann, was eine Wernicke-Enzephalopathie auslösen kann“, so Wodarz. „Daneben sollten auch Mineralien und Spurenelemente wie Magnesium und Kalium gegeben werden. Eine nicht selten bestehende Hyponatriämie sollte jedoch nicht zu schnell ausgeglichen werden.“
Aber noch ein weiterer Punkt ist wichtig – und wird von weniger erfahrenen Medizinern möglicherweise übersehen. „Ärzte sollten sich bewusst sein, dass ein Entzug eine zeitlich begrenzte Symptomatik ist und in der Regel drei bis fünf Tage dauert“, betont Wodarz. „Daher sollten sie von Anfang an die Reduzierung und das Absetzen der Medikamente im Blick haben. Denn auch bei Benzodiazepinen oder Clomethiazol besteht das Risiko einer Abhängigkeit.“ Die Medikamente sollten daher nicht länger als zwei Tage als Infusion gegeben und dann langsam reduziert werden. „Auch Antipsychotika, Antiepileptika und andere Medikamente, die beim Entzug eingesetzt werden, sollten so frühzeitig wie möglich reduziert werden, um mögliche Nebenwirkungen gering zu halten.“
Schließlich gilt es, auf einen weiteren Aspekt zu achten, der eigentlich selbstverständlich sein sollte: „Zur Behandlung der Entzugssymptome sollte kein Alkohol eingesetzt werden“, sagt Wodarz. Das sei in manchen Kliniken tatsächlich noch der Fall. „Alkohol ist zur Behandlung eines Entzugs aber kontraindiziert“, betont der Suchtmediziner. „Zum einen besteht ein hohes Risiko für Wechselwirkungen mit verschiedenen Medikamenten. Zum anderen ist eine solche Behandlung nicht zielführend, weil die scheinbare Vermeidung des Entzuges mit erheblichen Nachteilen in anderen Bereichen erkauft wird, zum Beispiel einer höheren Komplikationsrate und einer längeren Liegedauer.“
Langfristig gesehen ist eine akute Entzugsbehandlung jedoch auch eine Chance – als Einstieg in einer längerfristige Therapie. Ärzte sollte diese Gelegenheit nutzen: Sie sollten die Patienten zu einer weiterführenden Behandlung motivieren und sie gegebenenfalls an eine geeignete Behandlungseinrichtung überweisen. Ohne eine solche Behandlung ist das Rückfallrisiko sehr hoch. „Der Entzug ist ja nur eine Komplikationen der Grunderkrankung – ähnlich wie eine Blutzucker-Entgleisung bei Diabetes“, so Wodarz. „Würden Ärzte hier nur die Entgleisung behandeln und den Patienten dann nach Hause schicken, wäre das ein grober Behandlungsfehler.“ Wichtig sei also, auch die Grunderkrankung zu behandeln. Geeignete Institutionen können je nach Schwere der Alkoholproblematik eine Suchtklinik oder -ambulanz, eine Suchtberatungsstelle, eine ambulante Psychotherapie oder eine Selbsthilfegruppe sein.
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