Der Abend beginnt mit einem Geschäftsessen. Danach eskaliert Herr Babic komplett: Er verprügelt einen Taxifahrer und landet bei mir in der Klinik. Die Geschichte fängt hier gerade erst an.
Der Nachtdienst war bis anhin eigentlich recht ruhig. Ich habe mehrere freie Betten, sprich nicht viele Patienten, und ein hervorragendes Pflegeteam, welches mir den Rücken frei hält. So komme ich zu ein bisschen Schlaf, bis mich das Telefon weckt.
„Intensivstation Stadtklinikum, Anastasia Gramsel?“, murmel ich noch halbschlafend. Ein Blick auf die Uhr verrät, dass es fünf Uhr ist.
„Ja guten Morgen, hier ist Werdmüller, Notfallstation Kantonsspital. Ich hab einen Patienten, für den ich ein Intensivbett suche, haben Sie vielleicht noch eins frei?“
Ach Mann. Ich hasse Überweisungen von diesem Spital. Die schicken uns immer nur Mist, den wir dann ausbaden müssen, damit sie Plätze frei haben für Dinge, die Geld geben, sprich hauptsächlich Herzkatheteruntersuchungen (Koronarangiographie, auch Koro genannt), um welche sie sich schon seit Jahren mit der keine zehn Kilometer entfernten Universitätsklinik streiten. Das nennt sich Rosinenpickerei und geht mir auf den Senkel, denn die machen das große Geld mit den Koros und wir machen das große finanzielle Minus mit den langwierigen, mühsamen Fällen, alles dank dem großartig besch…eidenen System der Fallpauschalen.
„Ja, hab ich“, seufze ich. „Dann schießen Sie mal los.“
„Ja, also … ich muss ehrlich sagen, das ist ein bisschen ein Shitcase.“
Ich muss fast lachen. Wenigstens ist sie ehrlich.
„Also, ich hab hier Herrn Babic, Jahrgang 79, sonst gesund. Herr Babic war gestern auf einem Geschäftsessen und wollte dann mit dem Taxi nach Hause. Dabei kam es zum Streit, er hat sich mit dem Taxifahrer geprügelt, dabei hat ihm der Taxifahrer eine Flasche über den Kopf gezogen.“
Wow. Okay.
Herr Babic hat sich dabei lediglich eine große, eklige Wunde am Kopf zugezogen, weshalb er auf den Notfall ging. Dort habe man die Wunde nähen können, danach habe man noch ein CT machen wollen, um zu überprüfen, ob er eine Hirnblutung habe. Weil er nach Alkohol stank, wurde sein Alkoholspiegel gemessen und 1.5 Promille festgestellt – damit ist er primär nicht zurechnungsfähig. Wenn der behandelnde Arzt ihn auf Wunsch der Patienten ohne CT entlässt, und der Patient stirbt nachher an einer Hirnblutung, haftet der Arzt. Das CT wird daher durchgeführt, ob der Patient will oder nicht.
Herr Babic liess sich nicht erweichen, er schrie, schlug um sich, verletzte eine Pflegefachfrau mit einem Stuhl, den er auf sie warf. Er wurde mithilfe der Polizei überwältigt, ein Beruhigungsmittel wurde gespritzt. Das reichte jedoch nicht. Schließlich landete er in der Narkose am Tubus. So konnte das CT noch gefahren werden, es war zum Glück unauffällig. Drogenscreening ist aktuell ausstehend, Patient braucht ein Beatmungsbett, um langsam und vorsichtig aufwachen zu können. Ich akzeptiere mein (und sein) Schicksal. Herr Babic wird uns um halb Sieben vom Rettungsdienst gebracht.
Eigentlich fehlt Herrn Babic wirklich nichts. Die Wunde am Kopf ist gut versorgt. Knochen und Hirn sind heil. Er ist, wie mir die Kollegin schon versprochen hatte, gesund, nimmt keine Medikamente, hat keine Allergien. Seine Freundin schwört, er nehme keine Drogen, das Screening ist lediglich positiv auf Cannabis. Er habe sich noch nie mit irgendjemandem geprügelt oder sei ausgerastet, das sei völlig atypisch für ihn.
Trotzdem: Herr Babic bleibt in diesem unruhigen Zustand. Sobald man die Schlafmedikamente reduziert, beginnt er, um sich zu schlagen, zu schreien, an den Schläuchen zu reißen. Über die nächsten Tage versuchen wir es immer wieder, geben Medikamente gegen Delir und Psychosen, machen Diagnostik, um herauszufinden, ob am Hirn nicht doch noch was kaputt ist. Die Medikamente schlagen langsam an, sämtliche Untersuchungen bleiben ohne Ergebnis.
Herrn Babics Freundin besucht ihn täglich, sitzt am Bett, spricht mit ihm, liest ihm vor, lässt seine Lieblingsmusik laufen. Am fünften Tag bemerken wir eine erste Verbesserung: Wenn sie da ist, beruhigt sich Herr Babic, sein Puls und seine Atemfrequenz werden langsamer, sein Blutdruck tiefer. Wir verabreden mir seiner Freundin, dass wir versuchen, über die nächsten Stunden die Medikamente langsam zu stoppen, sofern sie beim Patienten bleibt. Sie ist einverstanden und bleibt die ganze Nacht, schläft neben ihm im Lehnstuhl. Wenn er unruhig wird, spricht sie sanft mit ihm. Am Morgen des sechsten Tages sehen wir ihn auf der Morgenvisite komplett ohne Medikamente friedlich im Bett.
Herr Babic selber weiß von nichts mehr, er mag sich nur noch knapp an das Geschäftsessen erinnern. Als wir ihm erzählen, was seither alles so geschah, ist er entsetzt. So kenne er sich gar nicht, wiederholt er immer und immer wieder, und entschuldigt sich bei jedem, der ins Zimmer läuft. Da Herr Babic jetzt wach ist, lassen wir noch einen Psychiater kommen. Dieser bestätigt unsere Diagnose einer akuten Psychose, die nun allerdings vorbei ist. „Kann nach Hause, keine Nachkontrollen nötig, keine Medikamente“, ist sein Bescheid. So können wir Herrn Babic am Nachmittag entlassen.
Psychosen sind Störungen im Denken und in der Wahrnehmung. Alles in allem sind sie relativ häufig, und oft bleibt es bei einer einmaligen Episode. Patienten haben Halluzinationen – hören, sehen oder fühlen Dinge, die nicht da sind – , es kommt zu Realitätsstörungen oder Wahn. Es gibt viele viele verschiedene Arten von Psychosen mit vielen vielen möglichen Ursachen – Entzündungen, Tumoren, Vergiftungen, Drogen, Verletzungen des Gehirns und so weiter.
Grundsätzlich hätte auch ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik „gereicht“ zur Therapie. Da allerdings Herr Babic alkoholisiert und verletzt war und deswegen aus juristischen Gründen ein CT gemacht werden musste, welches er verweigerte, war eine Narkose nötig. Denn die Psychiatrie nimmt den Patienten nicht, wenn eine organische Ursache – sprich zum Beispiel ein Hirnntumor oder eine Blutung – nicht sicher ausgeschlossen ist.
Als der Patient erstmal narkotisiert war, brauchte er einen Tubus zum Schutz vor einer Aspiration, auch damit nimmt ihn keine Psychiatrie. Die hätten ihn erst genommen, wenn wir ihn sicher und ohne Schlafmedikamente wach gehabt hätten. Auch Sauerstoff darf er für eine Verlegung nicht mehr benötigen. Psychiatrien sind chronisch überbelegt und kaum bis gar nicht für körperliche Erkrankungen ausgerichtet.
Herr Babic hat seine Psychose sozusagen ausgeschlafen. Optimal ist das nicht, aber so, wie die Gesetzgebung und die Abläufe hier sind, war das die einzig gangbare Möglichkeit. Zum Glück hat er alles gut überstanden. Wir haben ihm empfohlen, in Zukunft auf (legale und illegale) Drogen möglichst zu verzichtet, damit ihm sowas nicht nochmal passiert.
Bildquelle: Nicola Nuttall, unsplash