Jeder Autofahrer ist haftpflichtversichert. Ärzte in Deutschland seien hingegen unterversichert, kritisiert die AOK und fordert eine allgemeine Pflichtversicherung für Weißkittel. Konkrete Zahlen kann sie aber nicht nennen.
AOK und SPD sehen nicht nur eklatante Mängel bei der Sicherheit von Patienten. Sie fordern außerdem eine zwingende Haftpflicht für Ärzte. Denn mehr Rechte für die einen bedeutet mehr Absicherung für die anderen. Nicht ausreichend haftpflichtversichert zu sein, kann für einen Arzt fatale Folgen haben.
Doch erstmal zu den Patienten: Sie fordern ihre Rechte zu selten ein, weil sie nicht ausreichend Bescheid wissen, lautet eine der Kernaussagen im kürzlich veröffentlichten Positionspapier der AOK. Ihm geht eine von der AOK in Auftrag gegebene Online-Umfrage aus dem August mit über 2.000 Teilnehmern voraus. Weitere Ergebnisse: Grund für die Zurückhaltung sei unter anderem die Angst vor hohen Gerichtskosten, die womöglich lange Dauer eines Verfahrens und die psychische Belastung der Patienten. Auch die SPD kommt zu Wort: „Nach wie vor gibt es für Patienten zu hohe Hürden, um im Schadensfall eigene Rechte durchsetzen zu können“, kritisiert die gesundheitspolitische Sprecherin Sabine Dittmar.
Und an diesem Punkt kommt in dem Positionspapier das Thema Ärztehaftpflicht zur Sprache: Denn die wenigsten Patienten wüssten, dass es für Ärzte keine gesetzliche Verpflichtung zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung gibt. Der AOK-Vorstandschef Martin Litsch legt noch einen drauf: „Es kann nicht sein, dass jeder Autofahrer in Deutschland im Falle eines Unfalls selbstverständlich über die Haftpflicht abgesichert ist, während es für Ärzte keine verpflichtende Absicherung gibt“, wird er in dem Schreiben zitiert. Eines sucht man in dem Positionspapier vergeblich: Konkrete Zahlen. Dazu aber später.
Ist die Aufregung seitens AOK und SPD überhaupt gerechtfertigt? Eigentlich müssten ja ohnehin alle Ärzte haftpflichtversichert sein, wenn man einen Blick in die Musterberufsverordnung wirft:
Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, sich hinreichend gegen Haftpflichtansprüche im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit zu versichern.
So lautet der (einzige) Satz zum Paragraph 21 „Haftpflichtversicherung“ in der Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte.
Schon seit Jahren wird in den Medien aber immer wieder auf vorhandene Lücken bei der Ärztehaftpflicht hingewiesen. Das liegt an der „lockeren Form“ der Verpflichtung, wie es Dr. Riemer, Anwalt für Medizinrecht bezeichnet. Denn bundesweit vorgeschrieben ist die Haftpflichtversicherung nicht – sie entspricht keiner sogenannten Pflichthaftpflichtversicherung für alle Heilberufe, wie Riemer im Gespräch mit DocCheck erklärt.
Ergänzend zur Musterberufsordnung besteht für bestimmte Bundesländer ein Kammerrecht für Heilberufe, das Ärzte gesetzlich zu einer Versicherung verpflichtet. Diese sind:
In diesen neun Bundesländern muss die Versicherungspflicht von den Berufskammern sichergestellt werden. Doch auch hier gibt Riemer zu bedenken: „Tatsächlich ist es nur in sieben Bundesländern so, dass die berufsständischen Kammern kontrollieren, ob ihre Mitglieder überhaupt versichert sind. Aber eine Versicherungspflicht ist nur dann sinnvoll, wenn sie auch jemand kontrolliert. Verstöße müssen dann eben auch sanktioniert werden“, so Riemer.
Soviel zu den neun Bundesländern mit ergänzenden Kammergesetzen. In den restlichen Bundesländern bestehe lediglich eine „freiwillige Vorsorgemaßnahme“. Der Anwalt erklärt es so: „Der Bund könnte theoretisch von seiner Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich Gebrauch machen – bisher hat er das aber noch nie getan.“
Über die Nachweispflicht hinaus gibt es noch keine detaillierten Regelungen, wie man etwa im Informationsblatt des Versicherungsunternehmens HDI nachlesen kann: „Der Arzt ist der KV gegenüber nachweispflichtig. Konkrete Deckungssummen und Deckungsinhalte sind bis dato noch nicht vorgeschrieben.“
Wer also tatsächlich (ausreichend) versichert ist und wer nicht, weiß de facto niemand. Auch nicht die AOK. Von ihr wollten wir gerne wissen, auf welcher Grundlage Litschs Forderung einer zwingenden Ärztehaftpflicht fußt. Viel Neues erfahren wir aber nicht: „Die Haftpflichtversicherung ist zwar in der Muster-Berufsordnung der Ärzte vorgesehen. Ob sie tatsächlich vorhanden ist und über eine ausreichende Versicherungssumme verfügt, wird aber nicht kontrolliert“, erklärt Pressesprecher Willenborg. Das wahre Problem sei, dass man nicht genug wisse. „Der ‚Flickenteppich‘ von Regelungen in den einzelnen Ländern ist eine Ursache für die Intransparenz in diesem Bereich. Das führt dazu, dass wir aktuell eben keine Zahlen dazu haben, wie viele Ärzte nicht bzw. nicht ausreichend haftpflichtversichert sind. Das wird aktuell nicht zentral erfasst und kontrolliert“, so der AOK-Sprecher weiter. Immerhin eine Information ist interessant. Denn neben verbindlichen, bundeseinheitlichen Regelungen spricht er sich auch für eine festgeschriebene Höhe des abzusichernden Risikos aus: „Wir fordern eine Mindestversicherungssumme von 7,5 Millionen Euro.“
Recherchiert man nach Zahlen, stößt man auf einen Sendungsbeitrag des ZDF-Magazins „Frontal 21“ aus dem Jahr 2016, der in einigen Artikeln zitiert wird, als Original aber nicht mehr abrufbar ist. So sind in diversen Beiträgen, zum Beispiel im Focus, im Online-Magazin Versicherungsbote oder auch auf der Website finanzen.de die Aussagen des Versicherungsmaklers Bernd Helmsauer nachzulesen. Er geht davon aus, dass in Deutschland monatlich über 500.000 Patienten von Ärzten behandelt werden, die unversichert praktizieren. In der Sendung stellt er eine gewagte Rechnung auf:
„Der Versicherungsmakler Bernd Helmsauer kommt bei Frontal 21 zu Wort und rechnet an einem Beispiel vor, dass die Tragweite des Problems sehr weit reiche. So sind im Vorjahr insgesamt 52 Ärzte zu ihm gekommen, ohne einen Berufshaftpflichtschutz. Bedenkt man, dass dieser unversicherte Arzt am Tag im Schnitt 50 Patienten versorgt, ergibt das auf den Monat gerechnet 57.200 Patienten, die bei einem Behandlungsfehler keine Aussicht auf Kostenübernahme durch eine Versicherung hätten, sondern alle Kosten selbst tragen müssten. Im Ergebnis der Berechnung Helmsauers würden also monatlich circa 550.000 Patienten von Ärzten, die unversichert praktizieren, behandelt.“
Helmsauers These ist steil und seine Rechnung ist mit 22 Arbeitstagen pro Monat und 50 Patienten pro Tag extrem hoch, immerhin gibt es je nach Fachrichtung enorme Unterschiede. Außerdem berücksichtigt er bei den errechneten monatlichen 550.000 Patienten nicht, dass es hier mindestens zu Dopplungen kommt, schließlich besuchen viele Patienten ihren Arzt mehrmals pro Monat. Trotzdem: Die Vorstellung, dass ein Versicherungsmakler so häufig auf Ärzte ohne Berufshaftpflichtschutz trifft, ist beunruhigend. Selbst dann, wenn es „nur“ 5.000 Patienten pro Monat wären.
Des Weiteren findet man einen Beitrag der Verbraucherzentrale Hamburg (VZHH), die sich dem Thema widmet. „Dass sich Ärzte wegen einer fehlenden Haftpflichtversicherung der Haftung entziehen, dürfte zwar nicht besonders häufig vorkommen, ist jedoch auch nicht so selten, wie die Ärztekammern behaupten. Dort ist von ‚drei Fällen bundesweit pro Jahr‘ die Rede.“ Die VZHH arbeitete mit Frau S., einer betroffenen Patientin zusammen. „Frau S. hat durch eigene Recherchen allein in Berlin schon von sechs laufenden Fällen erfahren“, heißt es in dem Bericht weiter. Anfragen zu konkreten Zahlen an die Bundesärztekammer blieben unbeantwortet.
Für einen unversicherten Arzt kann ein Behandlungsfehler schlimme Folgen nach sich ziehen. Aus schadensrechtlicher Sicht haftet grundsätzlich der Schadensverursacher, also der Arzt, immer mit seinem Privavermögen in unbegrenzter Höhe selbst. Frau S. bekam trotzdem nicht das ihr zugesprochene Schmerzensgeld und den Schadenersatz. In ihrem Fall war der behandelnde Arzt in Vermögensverfall geraten. „Der Arzt ist pleite […] und er hat keine Haftpflichtversicherung. Die Patientin guckt in die Röhre. Denn wo nichts ist, kann sie nichts holen“, erklärt die VZHH und ergänzt: „Sie muss sogar noch Anwalts- und Gerichtskosten bezahlen, die eigentlich auch der verklagte Arzt hätte übernehmen müssen.“
Was die Jahresbeiträge betrifft, lassen Versicherungen sich nicht gerne in die Karten schauen. Trotzdem findet man online vereinzelte Beispiele. „Die Beitragsunterschiede in der Berufshaftpflichtversicherung für Zahnärzte sind enorm“, ist etwa auf der Website der Versicherungsstelle für Zahnärzte (VFZ) nachzulesen. „Empfehlenswert ist eine Versicherungssumme von mind. 3 Mio. €, besser 5 Mio. € für Sach-, Personen- und Vermögensschäden. […] Es gibt Gesellschaften mit einem Jahresbeitrag von mehr als 1.500,- € ohne eine Verbesserung im Versicherungsschutz zu bieten, günstige liegen bei unter 300,- € p. a.“ Laut der Website arzthaftpflicht-vergleich.de zahlen Fachzahnärzte in freien Praxen mit einer Deckungssumme von 5 Millionen Euro jährlich je nach Versicherung zwischen 273 und 408 Euro.
Verglichen mit anderen Bereichen sind das niedrige Beträge. Ein Geburtsschaden ist in der Regel verheerender als ein Behandlungsfehler, der in der Zahnmedizin entsteht. Dementsprechend höher fällt der Jahresbeitrag aus. Auch Neurochirurgen oder Anästhesisten arbeiten in Bereichen, in denen es bei Behandlungsfehlern zu hohen Schadenssummen kommen kann. So hoch, dass manche Versicherungen einen Rückzieher machen: „So hat beispielsweise die R + V-Versicherung den Vertrag für ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) gekündigt, weil die Pränataldiagnostik der Versicherung inzwischen als zu riskant erscheint. Andere deutsche Versicherer fordern das Siebenfache der bisherigen Prämie“, heißt es in einem Artikel des Ärzteblatts aus dem Jahr 2013.
Ein Extrembeispiel: freiberuflich tätige Hebammen. Sie müssen mittlerweile jährlich 8.664 Euro Haftpflichtversicherung bezahlen. „Mitte 2020 wird sich der Beitrag noch einmal auf 9.098 Euro pro Jahr erhöhen“, schreibt das Journal Frankfurt. Das sind Beträge, die existenzbedrohlich sein können und zwingt viele Hebammen dazu, ihren Job an den Nagel zu hängen.
Wer sich nicht versichert, hat mit schweren Konsequenzen zu rechnen, wenn es hart auf hart kommt. Denn seit der Verschärfung des Patientenrechtegesetzes im Jahr 2013 kann es laut Paragraph 6 der Bundesärzteordnung zum Ruhen der Approbation kommen, wenn „der Arzt nicht ausreichend gegen die sich aus seiner Berufsausübung ergebenden Haftpflichtgefahren versichert ist, sofern kraft Landesrechts oder kraft Standesrechts eine Pflicht zur Versicherung besteht.“
Es ist also schon problematisch genug, wenn ein Arzt nicht ausreichend versichert ist, „wenn man bedenkt, dass es zum Beispiel im Bereich der Anästhesie zu außergewöhnlichen Schadensfällen kommen kann, bei denen es dann auch mal um 13 Millionen Euro gehen kann“, so Riemer. „Ein Gynäkologe, der nicht mit 5 Millionen versichert ist, ist nicht ganz bei Trost“, stellt er klar. Und: Auch Missverständnisse können schwere Folgen haben. So kann es auch passieren, dass ein Praxisinhaber nicht ausreichend versichert ist, weil er die Prämie aus Versehen nicht gezahlt hat, weil er einen Kontowechsel vollzogen und der Versicherung nicht Bescheid gegeben hat, wie in einem Beitrag vom Deutschen Zahnmedizinerbund gewarnt wird.
Strengere Regeln fordert die AOK auch in Hinblick auf den Informationsaustausch zwischen Arzt und Patient. Bei der AOK-Umfrage kam heraus: „Jeder vierte Bundesbürger hat seinen behandelnden Arzt schon einmal darum gebeten, Einsicht in seine Behandlungsunterlagen zu nehmen – und immerhin 15 Prozent dieser Patienten wurde die gewünschte Einsicht nach eigenen Angaben verweigert.“ Halten Ärzte sich nicht an die Regeln, sollen gravierende Maßnahmen folgen, wenn es nach der AOK geht: „Wenn Ärzte ihren Patienten die Einsicht in ihre Behandlungsunterlagen ohne Grund verweigern, soll das für sie in Zukunft rechtliche Konsequenzen haben“, so die Forderung, die auch auf Patientenseite besteht.
Denn in der bereits erwähnten Umfrage sind 90 Prozent der Befragten dafür, dass Ärzte gesetzlich dazu verpflichtet sein sollten, über vermutete Behandlungsfehler zu informieren – auch ohne das aktive Nachfragen von Patienten. Laut Tagesspiegel will die SPD das Projekt nächstes Jahr angehen. Unterstützung gibt es schon jetzt von den Grünen, die ebenfalls eine Reform befürworten: Es sei „lange überfällig, die Rechte von Patientinnen und Patienten beim Verdacht auf Behandlungsfehlern zu stärken“, wird Fraktionsexpertin Maria Klein-Schmeink zitiert.
Was die Ärztehaftpflicht angeht, fände Riemer die Einführung von Standards sinnvoll. So hält er eine Mindestversicherungssumme für alle für durchaus denkbar. Außerdem spricht er sich für eine Systemangleichung an die restlichen freien Berufe aus.
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Bildquelle: Catrin Johnson, unsplash