Robert hat es immer gerne krachen lassen. In seinem Leben gab es einige Höhen und noch mehr Tiefen. Robert wird bald sterben und ich musste ihm versprechen, dass er nie wieder ein Krankenhaus von innen sehen muss.
Ich höre Stimmen, laute und fröhliche Stimmen. Es überrascht mich, aber ich weiß, dass ich mich nicht in der Tür geirrt habe. Dieses Haus besuche ich seit Monaten, in den letzten vier Wochen zwei- bis dreimal wöchentlich. Hier wohnt Robert, in einem Einfamilienhaus aus den 50er Jahren, bescheiden, gemütlich, etwas verwohnt und renovierungsbedürftig.
Robert ist 41 Jahre alt und er wird bald sterben. Er ist ein sympathischer und humorvoller Typ. Im Leben hat er schon viel erlebt. Nach dem Abitur hat er ein Studium der Wirtschaftspädagogik angefangen und abgebrochen. Er hat es immer gerne krachen lassen, ist um die Häuser gezogen. Oder er saß abends gerne mit seinem Bruder in der Garage und hat Bier getrunken, gebastelt, geschraubt, selbstgedrehte Zigaretten geraucht. Und erzählt, nächtelang. Sonntags wurde im Hof ein großer Fernseher aufgebaut. Dann kamen Freunde zum Formel 1 schauen in großer und gemütlicher Runde.
Irgendwann hat Robert sich selbständig gemacht. Messebau. Anfangs lief es gut. Aber dann blieben die Aufträge aus. Die Mahnungen kamen, er hat die Briefumschläge nicht aufgemacht. Der Gerichtsvollzieher kam, aber es gab nichts zu pfänden. Dann die Privatinsolvenz als letzter Ausweg.
Die Wende kam mit Michaela. Einer Krankenschwester, Intensivstation, klug, liebevoll und bildhübsch. Sie zogen zusammen und Roberts Zukunftspläne änderten sich. Er machte eine Ausbildung zum Tischler und die Aussicht auf Kinder und Familie waren zum Greifen nahe.
Dann kam die erste Krankheit. Robert ging zum Hausarzt mit Husten und Gewichtsabnahme. Nach der Diagnose Larynx-Ca dann das ganz große Kino: Radiatio, Chemotherapie, Neck-Dissection. Lange Krankenhausaufenthalte und sekundäre Wundheilung, Hautschäden und Schluckbeschwerden, immer wieder starke Schmerzen. Mit Michaela als Unterstützung ging alles. Sie war bei ihm, half ihm dabei, diese grauenhaften Monate durchzustehen.
Es schien wieder bergauf zu gehen. Die ersten Nachuntersuchungen zeigten eine komplette Remission. Die Stimmung stieg und wurde wieder hoffnungsvoll. Der Onkologe riet dazu, mit der Kinderplanung noch ein paar Monate zu warten. Aber dann: kein Problem.
Bis zu diesem einen Tag schien es bergauf zu gehen. Bis der Notarzt ihn eines Mittags anrief und Robert eröffnet hat, dass seine Michaela vom Bus überfahren worden ist. Tot. Nicht mehr erkennbar. Der Bus war mit dem Vorderreifen über ihren Kopf gerollt. Beim Rechtsabbiegen auf regennasser Fahrbahn.
Damit war alles egal. Und als Robert Monate später von seinem Zweitkarzinom (kleinzelliges Bronchial-Ca) erfuhr, war immer noch alles egal. Er wusste nur eins: Keine anstrengende Therapie mehr. Keine Chemotherapie mehr. Ohne Michaela konnte und wollte er diesen Weg nicht noch einmal gehen.
An diesem Punkt kam ich ins Spiel. Als Hausärztin, vertraute Person, Palliativärztin. Immer wieder hat er mich davon überzeugt, dass er klar denken kann. Wie sagt man als Mediziner so schön: Voll orientiert zu Zeit, Ort und Person. Im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte hat er Nein gesagt zu jedem Therapieangebot. Hat mir nur erklärt, dass er nicht leiden wollte. Und ob ich ihm versprechen könnte, dass er nie wieder in ein Krankenhaus muss. Konnte ich.
Er hat sich stattdessen entschieden, mit Freunden einen Segeltörn zu machen. Um Sardinien herum. Später hat er sich überlegt, wann denn wohl der richtige Zeitpunkt gekommen sei, sich ein Pflegebett anzuschaffen. Hat sich Unterstützung durch seine Familie erbeten und erhalten: Bruder, Schwägerin, Vater.
Gesprächsangebote mit einem Psychoonkologen hat er stets abgelehnt. Seelsorger auch. Eine Pflegestufe hat er nie beantragt.
Immer wieder hat er klar zum Ausdruck gebracht, dass er sich klaren Wissens und Verstandes gegen eine spezifische Therapie entschieden hat. Und dabei blieb er. Auch als er die Wohnung nicht mehr verlassen konnte, abmagert und weitgehend bettlägerig war. Die Unterstützung durch die Familie und mich musste intensiviert werden. Geistig klar war er immer. Und scherzte über sein kommendes nahes Ableben.
Und dann war da eines Samstagsnachmittags dieser Hausbesuch. Stimmen und Gelächter wiesen mir den Weg. Eine mir unbekannte junge Frau öffnete mir die Tür und wies mir den Weg. Robert hatte alle seine Freunde und Freundinnen noch einmal eingeladen. In sein Haus, in sein Wohn/Schlafzimmer. Manche hatten es sich auf seinem Pflegebett gemütlich gemacht. Er selbst hatte sich im Rollstuhl auf die Terrasse fahren lassen. Er rauchte eine Zigarette, sicher seit Wochen die erste. Und er trank ein Kölsch, zumindest ein paar Schlucke davon. Und erstrahlte. Er bat seinen Bruder doch noch eine Flasche Sekt zu öffnen. Er wollte, dass die „Mädchen“ genug Sekt zu trinken hätten. Für die Jungs Kölsch, für die Mädchen Bitzelwasser.
Die Freunde blieben ein paar Stunden. Ich selber kam am nächsten Vormittag wieder, um den Totenschein zu schreiben.
Robert ist in der Nacht nach seiner Party gestorben. Friedlich. Schmerzfrei. In Würde. Mit einem Lächeln auf den Lippen. Und dem Geschmack von Kölsch auf der Zunge.
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