Sie warten nicht lange auf Zulassungen, sie machen einfach: Die Rede ist von Biohackern. Still und klandestin kochen sie ihre Medikamente selbst und bauen Medizinprodukte, die innovativer sind als die der Profis.
Medizinische Innovationen sind kein einfaches Geschäft: Zulassungsbehörden sind oft langsam und Herstellerfirmen orientieren sich in erster Linie am Gewinn. Ärzten sind da oft die Hände gebunden. Doch in Zeiten, in denen sich Baupläne für hausgemachte Rohrbomben und dergleichen frei zugänglich im Internet finden, sind auch Kochanleitungen für Medikamente nicht weit. Wer sich diese zunutze macht, wird als Biohacker bezeichnet – ein Hacker des menschlichen Körpers. Hier einige Beispiele solcher Patienten, die sich über Regulationen, Wartezeiten und andere Hindernisse hinweggesetzt haben.
Das Jahr 2012 sollte eigentlich in die Medizingeschichte eingehen. Alipogene tiparvovec (Glybera®) erhielt als erstes gentherapeutisches Präparat die Zulassung in Europa. Mit dem neuartigen Pharmakon sollten Patienten mit erblichem Lipoproteinlipasemangel (LPLD) behandelt werden. Bei ihnen kommt es zu stark erhöhten Triglyceridwerten im Blut und zu Pankreatitiden.
Ein Adeno-assoziiertes Virus vom Serotyp 1 (AAV1) transportiert bei der Behandlung mit Glybera® funktionsfähige Gene in Muskelzellen – und Patienten hätten mehrere Jahre lang keine gesundheitlichen Probleme gehabt. Doch der wirtschaftliche Erfolg blieb aus, und Glybera® verschwand vom Markt. Das wollen sich Biohacker nicht gefallen lassen.
Zum Hintergrund: Mit geschätzten ein bis neun Fällen pro Million Menschen gehört LPLD zu den extrem seltenen Erkrankungen. Bis 2018 wurden weltweit nur 31 Personen mit der neuen Gentherapie behandelt – bei Kosten von rund einer Million US-Dollar pro Kopf. Den Zulassungsaufwand für amerikanische Märkte bewertete uniQure ohnehin als zu groß. Auch die europäische Arzneimittelbehörde forderte eine klinische Phase-IV-Studie, jährliche behördliche Inspektionen und weitere Vorsichtsmaßnahmen zum Risikomanagement. Es kam, wie es kommen musste: Der Hersteller zog seine Zulassung zurück. Matt Kapusta, CEO von uniQure, erklärte, man rechne nicht damit, dass „die Nachfrage von Patienten in den kommenden Jahren erheblich zunehmen wird.“ Doch Menschen mit LPLD bleibt jetzt nur noch, sich ihr Leben lang strikt fettarm zu ernähren. Lipidsenker sind bei ihnen kaum wirksam. Was lag näher, als die eigene Gentherapie zu entwickeln?
Mehrere US-Medien berichten, dass es Biologen gelungen sei, ein Präparat mit ähnlichem Wirkmechanismus wie Glybera® herzustellen. „Es wurde in einem Schuppen in Mississippi, einem Lagerhaus in Florida, einem Schlafzimmer in Indiana und einem Computer in Österreich entwickelt“, sagte Gabriel Licina, einer der beteiligten Aktivisten, auf der Konferenz „Biohack the Planet“ 2019.
Licina hat einen Abschluss in Molekularbiologie und sieht sich nicht – Zitat – als „irgendein Trottel“, sondern als industrieunabhängiger Wissenschaftler. Zusammen mit Kollegen hat er das gemeinnützige Labor Scihouse Inc. ins Leben gerufen.
In wissenschaftlichen Veröffentlichungen fanden sie die Sequenz des LPL-Gens. Für 300 US-Dollar synthetisierte ein anderes Labor Kopien dieses Gens. Licinas Team platzierte es in einem Minicircle, also einer ringförmigen Nukleinsäure mit flankierenden Sequenzen, um die Genexpression zu gewährleisten. Erste Experimente mit Zellkulturen verliefen vielversprechend. Jetzt bietet Licina allen interessierten Forschern Proben seines Präparats an, um Tierexperimente durchzuführen. In Anlehnung an das Original hat er „Slybera“ als Namen gewählt.
Experten kommentierten die Zwischenergebnisse ganz unterschiedlich. „Das Recht auf Zugang zu Medikamenten ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit“, so Michael Hayden, ehemaliger Leiter der Glybera®-Entwicklung und Forscher an der University of British Columbia. Er werde Biohackern „niemals im Wege stehen“ und sei sogar an der Zusammenarbeit interessiert.
Diese Meinung teilt Daniel Gaudet aus Montreal nicht. Der Arzt hatte einige LPLD-Patienten mit der Glybera® behandelt. Für ihn ist „Biohacking nicht die Lösung“. solche Pläne seien „naiv“. Und letztlich hat auch uniQure ein Wort mitzureden. Denn der Hersteller hält nach wie vor ein Patent auf Glybera®.
Die Community befasst sich aber nicht nur mit seltenen Leiden. Auch Krankheiten mit hohen Patientenzahlen wie der insulinpflichtige Typ-2-Diabetes bzw. der Typ-1-Diabetes stehen im Fokus von Biohackern. Was sie ärgert: Bereits ab den 1970er-Jahren begannen verschiedene Labors weltweit, Regelkreise technisch umzusetzen, die unsere Blutglukose konstant halten. Solche Systeme bestehen aus einem Glukosesensor und aus Pumpen, die Insulin bzw. dessen Gegenspieler Glucagon gezielt dosieren:
Quelle: Sugarmaster, Wikipedia
40 Jahre nach Beginn der Forschung ist immer noch kein tragbares Gerät erhältlich, sehr zum Ärger von Dana M. Lewis aus Seattle. Seit ihrer Kindheit leidet sie an Typ-1-Diabetes und befürchtete, mit kommerziell erhältlichen Geräten vor allem nachts in eine Hypo- oder Hyperglykämie zu geraten. Deshalb begann sie, zusammen mit ihrem Freund Scott Leibrand, an einer künstlichen Bauchspeicheldrüse zu arbeiten.
Unter dem Twitter-Hashtag #WeAreNotWaiting („Wir warten nicht“ [bis die Industrie endlich aktiv wird]) tauscht sie sich mit einer weltweiten Community aus. Mit an Bord sind Ärzte, Techniker, aber auch unzählige Patienten.
Ihnen gelang es, einen Insulinsensor zu hacken und einen Algorithmus zu programmieren, der Glucosespiegel anhand von Messwerten prognostiziert. Anschließend wurde noch die Insulinpupe integriert. Glucagon ist in Lewis´ Modell nicht vorgesehen. Das Do-It-Yourself Pancreas System funktioniert weitgehend autark. Nur bei Mahlzeiten muss die Hackerin noch eingreifen.
Im nächsten Schritt wäre eine Zulassung bei der US Food and Drug Administration (FDA) als Medizinprodukt notwendig gewesen: für Patienten finanziell und logistisch ein Ding der Unmöglichkeit. Was tun? Lewis entschloss sich gegen die Vermarktung ihrer Technik. Vielmehr stellt sie unter OpenAPS (Open Artificial Pancreas System) das Wissen allen Patienten, Ärzten oder Forschern kostenlos zur Verfügung. Zugegeben: Ohne technisches Grundverständnis lässt sich kein solches System konzipieren. Doch die Hackerin hofft, so auch große Firmen unter Druck zu setzen.
Was denken Ärzte darüber? Der Diabetologe Dr. Dirk Hochlenert aus Köln betont im DocCheck-Videointerview, hier handele es sich um nicht zugelassene Systeme, die er als Arzt nicht empfehlen könne. Patienten würden „die volle Verantwortung übernehmen“. Gleichzeitig räumt er ein: „Das Ergebnis ist oft sehr, sehr gut.“ Anhand von Daten zeigt er, dass es beim Artificial Pancreas zu deutlich geringeren Schwankungen des Blutglukosespiegels kommt als bei handelsüblichen Insulinpumpen.
Beim Thema Diabetes geht Hackern es nicht nur um Medizintechnik, sondern auch um Insuline oder Insulin-Analoga. Ihre Vorwürfe:
Hier setzt das Open Insulin Project aus dem kalifornischen Oakland an. „Wir wollen alle Menschen mit Insulin versorgen, die es sich nicht leisten können oder bei denen Strukturen zur Versorgung fehlen“, so Jim Wilkins. Nach langen Jahren bei Big Pharma hat er die Seiten gewechselt und Fair Access Medicines gegründet. Er unterstützt das Projekt mit seiner Expertise. Anders als große Konzerne arbeiten die Biohacker hier mit gentechnologisch veränderten Hefen, um Insuline herzustellen, nicht mit Bakterien wie Escherichia coli. Das wird ihnen früher oder später gelingen.
Danach haben Insulin- und Glybera®-Hacker jedoch ähnliche Probleme. Ohne hochwertige klinische Studien werden sie keine Zulassung von Arzneimittelbehörden erhalten. Solche Einschränkungen versuchen Biohacker mit verschiedenen Strategien zu umgehen.
Bleibt als Fazit, dass Biohacking gleichermaßen Chancen und Risiken birgt. Eine Sache ist aber sicher: Der Druck auf große Hersteller, selbst aktiv zu werden, steigt.
Bildquelle: Eddie Kopp, unsplash