Einmal in Fahrt gibt es kaum mehr ein Zurück: Bei Krebs, aber auch bei vielen anderen chronischen Erkrankungen baut der Körper Muskeln und Fett ab. Das Verständnis der molekularen Abläufe ist dabei genauso begrenzt wie die Therapiemöglichkeiten.
iPhone, iPad, Macintosh – der geniale Kopf hinter dem Erfolg von Apple war Steve Jobs. Wer sich jedoch an seine letzten Jahre an der Spitze seiner Firma erinnert, sieht ein eingefallenes Gesicht vor sich. Ein Gesicht und ein hagerer Körper, die vom Krebs förmlich aufgefressen schienen.
Bei etlichen Tumorerkrankungen scheint die Rollenverteilung eher umgekehrt zu sein. Die Kachexie beeinflusst Stoffwechsel und Aussehen oft bevor die Krebsdiagnose überhaupt erst gestellt ist. Der fortschreitende Abbau der Skelettmuskulatur und in vielen Fällen auch der Fettdepots sorgt mehr als der Tumor selbst für das Ableben der Patienten – in mindestens einem Viertel der Fälle. Inzwischen ist hinlänglich bekannt, dass sich der körperliche Verfall im Spätstadium nicht mehr aufhalten lässt und wohl nur in der Frühphase umkehrbar ist. Trotzdem sieht es mit der angemessenen Reaktion darauf in Kliniken und Pflegeheimen eher schlecht aus. Ärzte und Pfleger kümmern sich mit der ganzen Auswahl ihrer pharmakologischen Möglichkeiten um den Tumor oder die entsprechende chronische Krankheit, die mit der zunehmenden Gebrechlichkeit einhergeht. Oft mit Erfolg, wenn der Krebs aufhört zu wachsen oder Herz und Lunge sich wieder erholen. Die Kachexie setzt sich dann aber oft fort. Außer hochkalorischer Nahrung und Hormongaben ist das Arsenal der Behandlungsmöglichkeiten eher beschränkt. Auch deswegen, weil über die Ursachen und Abläufe auf molekularer Ebene bisher kaum etwas bekannt ist.
Bis vor einigen Jahren waren sich die Experten noch nicht einmal darüber einig, wie sich der Zustand einer Kachexie genau beschreiben lässt. Nach einer neueren Definition macht sich eine behandlungsbedürftige Kachexie durch mehr als fünf Prozent Gewichtsverlust innerhalb des letzten halben Jahres bemerkbar. Alternativ zeigt ein BMI <20 oder eine Sarkopenie zusammen mit einem Gewichtsverlust von mehr als zwei Prozent die zunehmende Schwäche an, die durch normale Ernährung nicht mehr kompensiert werden kann. Auch Blutparameter und eine Reihe von standardisierten Fragebögen geben Hinweise auf eine Unterversorgung des Körpers mit notwendigen Nähstoffen. Der gebräuchlichste davon ist der NRS-2002 (Nutritional Risk Score). Im Urin tauchen höhere Kreatininwerte auf. Auch an Entzündungsparametern lässt sich der Muskelabbauprozess feststellen: Interleukin-1, -6 und -8 sowie TNF∝ und der Transkriptionsfaktor NFkB sind Marker dafür. Zur Mangelernährung führen neben den krankheitsbedingten Veränderungen des Stoffwechsels auch Schluckprobleme, Sodbrennen, ein trockener Mund oder Schmerzen bei Essen. Während mit zunehmendem Alter der Energiebedarf immer weiter absinkt, bleibt der Nährstoffbedarf gleich. Die zunehmende Appetitlosigkeit führt dabei in einen Kreislauf der Mangelernährung. Wer vorher übergewichtig war, bemerkt die Folgen einer Unterversorgung erst spät.
Die Folgen einer solchen Mangelernährung sind jedoch dramatisch: Die körperliche Leistungsfähigkeit sinkt, während die Gehirnleistung nicht notwendigerweise abnimmt. Eine Veröffentlichung aus dem Jahr 2010 verglich die Sterblichkeitsrate bei mangelernährten Tumorpatienten mit solchen mit Normalgewicht. Nach sechs Monaten lag die Mortalität der Kranken mit Kachexie um rund die Hälfte höher als bei der Kontrollgruppe. Bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz lag die Sterblichkeit sogar noch höher. Nach zwei Jahren waren unter den kachektischen Probanden doppelt so viele gestorben wie bei jenen ohne Muskelabbau. Während sonst ein hoher Body-Mass-Index eher kontraproduktiv für das gesundheitliche Wohlergehen ist, verzögerte er in diesem Fall sogar das Ableben. Ein Tumor, bei dem der Muskelabbau und die zunehmende Gebrechlichkeit sehr häufig vorkommen, ist das Pankreaskarzinom. Vier von zehn Patienten, bei denen der Chirurg den Primärtumor mit dem Skalpell entfernt, sind mangelernährt. Wer operiert ist, braucht lange, um sich von seinem metabolischen Ungleichgewicht zu erholen. Bis das alte Gewicht erreicht ist, vergehen oft bis zu eineinhalb Jahre [Paywall]. Ähnliches gilt für eine Pankreatitis.
Wer sich in den Kliniken auf den internistischen und chirurgischen Stationen umschaut, sieht 30–80 Prozent der Patienten, die während ihres Aufenthalts Gewicht verlieren. Eine Studie von Matthias Pirlich aus dem Jahr 2006 wies in deutschen Kliniken bei rund 18 Prozent der Behandelten eine mäßige, bei knapp zehn Prozent eine schwere Mangelernährung auf. Damit liegt Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sogar eher noch unter dem Durchschnitt. In Pflegeheimen sieht die Situation nicht viel anders aus: Eine Studie über fünf Jahre in 13 Ländern kam bei 18 Prozent aller Bewohner auf einen BMI von unter 20, 11,5 Prozent litten unter einer mäßigen oder schweren Kachexie. Traten beide Kriterien zusammen auf, stieg das Sterblichkeitsrisiko um das Vierfache. Wer diesen Prozess stoppen will, muss früh eingreifen. Zunächst mit zusätzlichen Kalorien, aber auch mit Mitteln, die entzündliche Reaktionen im Körper aufhalten: Antioxidantien, Omega-3-Fettsäuren oder L-Carnitin. Glukokortikoide können zusätzlich den Appetit anregen und die Stimmung aufhellen, um den Patienten dazu zu motivieren, sein Ernährungsdefizit auszugleichen. Auch ein gezieltes Bewegungsprogramm ist dazu geeignet, den Hunger anzukurbeln. Vorläufige Daten von der Chirurgie des Münchner Klinikums rechts der Isar bestätigen, dass ein angepasstes leichtes Sportprogramm dazu beträgt, der Kachexie entgegenzuwirken. Auch unter ökonomischen Gesichtspunkten zahlen sich solche Programme aus. Eine Metastudie kam bei mangelernährten Patienten auf eine durchschnittliche Krankenhausverweildauer von 17 Tagen, ohne Gewichtsprobleme dagegen auf knapp 10 Tage.
Trotz des riesigen Therapie-Potentials hat sich die Pharmaindustrie scheinbar in den letzten Jahren beim Thema Kachexie ziemlich zurückgehalten. Immer wieder tauchten „Schlüsselmoleküle“ auf, die aber in Studien nicht genügend Angriffsfläche boten, um einem Wirkstoff zu einem großen Erfolg zu verhelfen. Noch erscheinen die Vorgänge beim Umschalten des Körpers auf ungewolltes Abnehmen eher wie eine Black Box. Letztes Jahr publizierten Bruce Spiegelman aus Harvard und Erwin Wagner aus Spanien Ergebnisse aus Tierversuchen, nach denen sich weiße Fettzellen bei kachektischen Mäusen in braune umwandeln. In den Mitochondrien dieser Zellen schaltet der Metabolismus von der ATP-Genese und dem Anlegen von Energiespeichern zur Produktion von thermischer Energie um. Entzündungsvorgänge mit Beteiligung von IL-6 unterstützen diese Vorgänge. Dementsprechend hemmen antiinflammatorische Wirkstoffe die Umwandlung, können sie aber nicht vollständig verhindern. Die Harvard-Gruppe konnte zeigen, dass Parathyroid-Hormon-related-Protein (PTHrP) von Tumorzellen eine entscheidende Rolle bei diesen Reaktionen spielt. Mit einem PTHrP-Block gelang es den Wissenschaftler sogar, den Abbau von Muskeln in den untersuchten Mäusen zu stoppen. Ähnliche Ergebnisse publizierten im September 2015 [Paywall] auch australische Wissenschaftler. Sie nahmen einen Rezeptor der TNF-Familie (FN14) ins Visier. Mit passenden Antikörpern konnten sie im Mausmodell die Kachexie stoppen. Humanes FN14, in Mäuse transformiert, induzierte im Gegensatz dazu den Muskelabbau. Gerade bei Tumormodellen ist jedoch bei der Übertragung dieser Ergebnisse vom Tier auf den Menschen Vorsicht angebracht, auch wenn die Ergebnisse auf weitere Fortschritte hoffen lassen.
Das gilt auch für die Diagnostik. Brian Wolpin vom Dana-Faber-Institut in Boston veröffentlichte im letzten Jahr Ergebnisse beim Pankreaskarzinom. In einer prospektiven Studie fand er unter 1.500 Probanden vor allem bei jenen hohe Konzentrationen an verzweigtkettigen Aminosäuren, die später an dem Tumor erkrankten. Isoleucin, Leucin und Valin – wahrscheinlich aus dem Abbau von Muskelgewebe – tauchten schon mehrere Jahre vor dem Ausbruch der Krankheit im Plasma auf. Diese Ergebnisse ließen sich auch im Tierversuch bestätigen, nicht jedoch bei anderen Tumorformen. Weltweit leiden Schätzungen zufolge rund neun Millionen Menschen an chronischem ungewolltem Muskelabbau. Die direkte finanzielle Belastung allein in Europa durch Mangelernährung beträgt nach einer Studie aus dem Jahr 2009 über 31 Milliarden Euro. Nimmt man indirekte Kosten wie Arbeitsausfall und verlorene Lebensjahre dazu, kommt man auf den zehnfachen Wert. Es nützt wenig, wenn neue Therapien vielversprechende Wege im Kampf gegen den Krebs öffnen, die Patienten aber zu schwach sind, diese Therapien auch durchzustehen.