Es ist fast sieben Uhr abends und ehe ich nach Hause gehen kann, ist wie so oft noch Schreibkram wegzuarbeiten. Das ist der Moment, in dem Patienten und Angehörige spontan ein Gespräch einfordern.
Es war ein langer Tag. Wie immer hat er um 7:30 Uhr mit der Übergabe der Nachtschicht angefangen. Jetzt ist es 18:45 Uhr, ich bin müde und will nach Hause, muss aber noch eine Menge Schreibkram erledigen, bevor ich gehen kann. Noch eine dreiviertel Stunde, bis mich die Nachtschicht ablöst. Wenn ich bis dahin nicht alles fertig hab, mach ich Überstunden und erschwere dem Nachtdienst die Arbeit, weil die Dokumentation nicht aktuell ist. Doch dann klopft eine Pflegefachfrau an die Tür meines Büros.
„Hör mal, die Angehörigen von Frau Weissmüller sind da, und die möchten jetzt gern mit einem Arzt sprechen.“
Nun, es ist ja nicht so, als würde ich diese Gespräche generell nicht führen. Mir ist durchaus klar, dass die Zeit, während derer ein Patient im Spital, und ganz besonders auf der Intensivstation ist, anstrengend ist für die Angehörigen. Sie haben Angst, können die Situation nur schlecht einschätzen. Sie nehmen sich die Zeit, an freien Tagen oder abends nach der Arbeit vorbeizukommen, um eine Person zu sehen, die sie kaum wiedererkennnen zwischen all den Schläuchen und piepsenden Apparaten, die vielleicht nicht einmal auf sie reagiert.
Mir ist auch klar, dass diese Angehörigen oft arbeitstätig sind, und nicht tagsüber verfügbar sind. Ich hab auch nicht grundsätzlich was dagegen, Gespräche um diese Uhrzeit auszumachen. Insbesondere, wenn jemand vorher kurz anruft, und sich ankündigt. Dann kann ich mich auch richtig vorbereiten.
Was mich stört – und das ist nicht nur bei uns so, sondern auch auf der Normalstation – ist die Selbstverständlichkeit und Nachdrücklichkeit, mit der Patienten und Angehörige spontan Gespräche einfordern. Auf der normalen Station ist das um diese Zeit unter Umständen ein Problem, denn die Stationsärztin ist um 19 Uhr „schon“ zuhause (nach Arbeitsbeginn um 7 Uhr oder noch früher), oder versucht noch, in Ruhe ihren Bürokram zu erledigen, für den sie sonst keine Zeit hat. Wenn dann nachdrücklich ein Arzt eingefordert wird, muss der Dienstarzt kommen, der den Patienten nicht kennt, und eigentlich auf dem Notfall beschäftigt ist. Von dem kriegt man auch keine richtige Antwort, denn er kennt ja den Patienten nicht, und das wiederum ist auch unbefriedigend.
Auf der Intensivstation ist das generell ein bisschen komplizierter. Zwar ist immer ein Arzt oder eine Ärztin auf Station, rund um die Uhr, doch man muss sich ein bisschen organisieren können, um Zeit für Gespräche zu schaffen. Das ist möglich, wenn ein Termin vereinbart wird. Um zwei ist der Ultraschall von Herrn Meier, aber um drei kann ich das einrichten, wenn nicht grade irgendwas lebensbedrohliches dazwischenkommt.
Aber bei spontanen Einforderungen von Gesprächen ist das manchmal schlicht nicht möglich. Gerade kam Herr Horowitz aus dem Schockraum mit dem septischen Schock, und sowohl der Mann von Frau Weber wie auch die Tochter von Herrn Huber haben gerade jetzt „ein paar Fragen“. Da Herr Horowitz blöderweise verstirbt, wenn wir uns nicht jetzt um ihn kümmern, hat er Vorrang gegenüber Frau Weber, die seit einer Woche hier ist, und Herrn Huber, mit dessen Tochter ich bereits gestern zwei Gespräche und heute ein Telefonat geführt habe.
Kommt jemand unangekündigt während des Tages oder ruft an, nehme ich mir die Zeit, wenn ich es irgendwie einrichten kann. Nach 19 Uhr wäge ich ab. Habe ich heute oder gestern schon mit diesen Angehörigen gesprochen und hat sich seither nichts Neues ergeben, lehne ich in der Regel ab und überlasse dem Nachtdienst die Entscheidung, ob er oder sie sich darum kümmern möchte. Bei Patienten, die im Sterben liegen oder auf der Kippe stehen, bei solchen, bei denen es Neuigkeiten gibt, oder neue Patienten, mit deren Angehörigen noch kein Arzt gesprochen hat, schaue ich vorbei.
Eine große Rolle spielt dabei die Pflege. Meine Pflegefachfrauen und -männer kennen mich, wissen, wie ich arbeite und womit ich jeweils grade beschäftigt bin. Sie können bei den Angehörigen schon mal die Weichen stellen. „Die Angehörigen von Frau Weissmüller sind da. Ich hab denen gesagt du bist grade noch mit einem neuen Patienten beschäftigt und hast nachher Übergabe, es kann sein, dass du keine Zeit hast. Aber vielleicht, wenn du’s einrichten kannst?“ Dann könnte ich sie jeweils schon umarmen.
Das ist aber nicht selbstverständlich. So klagte erst kürzlich eine Kollegin, die Pflegenden auf ihrer chirurgischen Station würden stets sagen „Natürlich, die Ärztin kommt gleich“, egal, ob es schon 20 Uhr ist und die Kollegin schon seit zwei Stunden Feierabend hätte. Sie ist ja noch da, also muss sie für alle sofort verfügbar sein. Wie sie dann dem Chefarzt am nächsten Tag die Überstunden erklären soll, die sie eigentlich nicht machen darf, und die entsprechend auch einfach wieder gelöscht und somit nicht bezahlt werden, ist ja ihr Problem. Pech gehabt.
Darum, als Tipp: Meldet euch einfach vorher an, das macht alles viel einfacher. Ruft an und fragt, ob der Arzt vielleicht heute abend um Sieben kurz Zeit hätte, ihr kämt dann vorbei. Bittet im Voraus um Termine, wenn ihr physisch herkommt, oder fragt telefonisch um Auskunft. Dann nehmen wir uns auch gerne die Zeit, sind gut vorbereitet und können kompetent Auskunft geben.
Einfach so auftauchen, fordern und dabei vielleicht noch unverschämt werden, das – find ich zumindest – geht gar nicht.
Bildquelle: davide ragusa, Unsplash