Milasen ist ein Medikament, das für einen einzigen Menschen hergestellt wurde. In der Individualmedizin wird es als Meilenstein gefeiert. An anderer Stelle wirft es Fragen auf. Es geht um Kosten und Sicherheit – und um Fairness.
Benannt ist Milasen nach Mila Makovec, einem 8-jährigen Mädchen aus Longmont, Colorado. Sie leidet am Morbus Spielmeyer-Vogt, einer seltenen Hirnerkrankung. Die englische Entsprechung, Batten Disease, deutet auf die Nähe zum Batten-Kufs-Syndrom hin. Beide Krankheitsbilder zählen zu den Neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen (NCL). Unter diesem Begriff sind auch weitere Varianten der vererbten Stoffwechselerkrankungen zusammengefasst.
Bei Morbus Spielmeyer-Vogt handelt es sich um eine chronische juvenile Verlaufsform der Erkrankung, die umgangssprachlich auch als Kinderdemenz bezeichnet wird. Sie gehört als NCL zu den Lysosomalen Speicherkrankheiten (LSK). Diese sind auf eine gestörte Funktion der Lysosomen zurückzuführen, die durch eine Genmutation verursacht wird. Die unzureichende Funktion der Enzyme, die in den Lysosomen enthalten sind, führt zu einer Akkumulation eigentlich abzubauender Substanzen. So sammeln sich diese Stoffe im Körper – zuerst innerhalb der Zelle, ab einer bestimmten Konzentration aber auch im Extrazellulärraum. Das ruft diverse Störungen hervor.
Für die achtjährige Mila aus den USA bedeutet das konkret: Aus einem aufgeweckten und aktiven Mädchen wurde im Zeitraum von nur drei Jahren ein schwerbehindertes Kind mit einer nicht therapierbaren Krankheit und einer Lebenserwartung von etwa 20 Jahren. Mila erblindete, sie konnte nicht mehr aufrecht stehen oder alleine ihren Kopf hochhalten. Sie wurde über eine Magensonde ernährt und erlitt pro Tag bis zu 30 Krampfanfälle, einige davon über zwei Minuten lang. Milas Eltern stellten sie bei verschiedenen Fachärzten vor – keiner konnte feststellen, was ihr fehlte.
Als nach mehreren Jahren Ärzte des Children’s Hospital Colorado Morbus Spielmeyer-Vogt bei Mila diagnostizierten, standen sie zunächst vor einem Rätsel. Denn die Krankheit ist rezessiv, ein Betroffener müsste das geschädigte Gen CLN7 (auch MFSD8) also je einmal von der Mutter und vom Vater vererbt bekommen. Aber bei einer Genomsequenzierung fiel nur die fehlerhafte Kopie von CLN7, die Mila von ihrem Vater geerbt hatte, auf.
Erst, als die Forscher ihr vollständiges Genom sowie das ihrer Eltern und Geschwister untersuchten, entdeckten sie die Krankheitsursache. Mila und ihre Mutter wiesen beide ein Retrotransposon im CLN7-Gen auf. Es verhinderte den korrekten Aufbau des Gens.
Was hier in einem Absatz zusammengefasst ist, zog sich für Mila und ihre Familie über mehrere Monate hin. Und begann mit einem Zufall: Durch einen Facebook-Post eines Freundes der Makovecs war eine Ärztin auf Milas Fall aufmerksam geworden. Sie erzählte ihrem Mann Timothy Yu, einem Neurologen und Neurogenetiker, davon. Er leitete schließlich das Team, was die Genomsequenzierung durchführte und den Fehler in Milas Genen entdeckte. Er war es auch, der einige Zeit später die Entwicklung von Milasen begleitete.
Die Idee hinter dem Medikament für Mila war die Herstellung eines Antisense-Oligonukleotids (ASO), was die Effekte des Retrotransposons aushebeln sollte. „Es bindet an defekte RNA, versteckt sie und bringt Zellen dazu, ein normales Protein zu produzieren“, erklärt Jocelyn Kaiser den Vorgang in Science.
Die Herstellung eines derart spezialisierten Medikaments ist teuer – die Makovecs bezahlten sie mithilfe der Mila's Miracle Foundation, einer eigens für ihre Tochter ins Leben gerufenen Stiftung. Auch das Boston Children's Hospital übernahm einen Teil der Kosten. Über GoFundMe sammelte die Familie zusätzlich 3 Millionen US-Dollar. Wie viel die Entwicklung des Medikaments letztendlich kostete, konnte – oder wollte – keiner der beteiligten Forscher sagen.
Milasen wird Mila über den Liquor verabreicht. Sie erhält alle drei Monate eine Dosis. Schon im ersten Monat der Behandlung berichteten ihre Eltern von positiven Veränderungen: Das Mädchen hatte immer weniger Krampfanfälle, die insgesamt auch kürzer wurden.
Inzwischen erlebt sie ganze Tage ohne Anfälle und kann wieder ohne Magensonde ernährt werden. Ihre Oberkörper- und Beinmuskulatur wird stärker, sie kann mit Hilfe wieder aufrecht sitzen und stehen. Doch sie bleibt schwerbehindert und blind, einen Großteil ihres Vokabulars hat sie dauerhaft verloren. Heilen wird Milasen sie nicht.
Milas Medikament ist das erste und einzige seiner Art. Doch was die Forschung wirklich aus Milasen machen kann, bleibt unklar, kommentiert Wissenschaftsjournalistin Gina Kolata in der New York Times. Denn noch wisse niemand, welche Sicherheitsmaßstäbe bei Entwicklungen im Bereich der Individualmedizin gelten sollten. Janet Woodcock, Leiterin des Center for Drug Evaluation and Research der Food and Drug Administration (FDA) schreibt dazu: „Welche Form von Evidenz ist nötig, bevor man einen Menschen einem neuen Medikament aussetzen darf?“
Auch der finanzielle und personelle Aufwand solcher Projekte ist praktisch nicht einzuschätzen. Kolata gibt zu bedenken: „Zehntausende Patienten könnten allein in den USA in Milas Situation sein. Aber es gibt bei Weitem nicht genug Forscher, um personalisierte Medikamente für alle, die sie möglicherweise haben wollen, herzustellen. Und selbst wenn es so wäre, wer würde das bezahlen?“
Andere Experten bringen die Frage der Fairness ins Spiel. Zum Beispiel Brad Margus, Gründer des A-T Children’s Project. Er habe Yu bitten wollen, ein personalisiertes Medikament für ein zweijähriges Mädchen mit dem extrem seltenen Louis-Bar-Syndrom zu entwickeln. Margus eigene Kinder leiden ebenfalls unter der Erkrankung, seine Stiftung wollte für die Kosten aufkommen. Inzwischen frage er sich aber, wie gerecht ein Ansatz sein kann, der nur Patienten hilft, deren Eltern das Glück hatten, ein Stück der Zeit des Neurologen zu ergattern.
Milas Mutter hofft aber nach wie vor, dass die zugrundeliegende Forschung zum Fall ihrer Tochter und die Entwicklung ihres Medikaments auch anderen Patienten eine Chance eröffnet. Denn Mila erhielt die erste Dosis Milasen im Alter von sieben Jahren. „Was wäre, wenn die nächste Mila behandelt wird, wenn sie vier oder fünf Jahre alt ist?“, fragt ihre Mutter.
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