Jeden Morgen eine Pille einwerfen und damit das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen senken. Das Konzept der Polypille, früher schlicht Kombinationspräparat genannt, klingt verlockend. Doch kann sie das wirklich?
Weltweit existieren etwa ein Dutzend Konzepte für eine Polypille zur Senkung des kardialen Risikos, zur Besserung der Lipidparameter und des Blutdrucks. Zwischen drei und fünf Wirkstoffe sind in so einer Pille enthalten. Pharmafirmen in Indien, Iran, Spanien, Brasilien und natürlich den USA und Deutschland wollen mit der Superkapsel das große Geld verdienen. Doch was bringt das Konzept der Pharmakombination?
Natürlich ist es nicht neu, verschiedene Wirkstoffe in einer Arzneiform zu kombinieren. In vielen Fällen ist das auch sinnvoll, um die Adhärenz des Patienten zu verbessern. Gerade wenn die Arzneistoffe synergistische Wirkungen aufweisen, kann dies als pharmazeutischer Fortschritt angesehen werden.
Das Besondere am Konzept der Polypille ist aber einerseits der häufig als Prophylaktikum propagierte Charakter und andererseits die Mischung von mehreren Wirkstoffen unterschiedlicher Indikationen. In der Asthmatherapie zwei Bronchospasmolytika zu kombinieren, in einem Kombianalgetikum zwei Schmerzmittel oder ein Statin mit Ezetimib, das ist pharmako-logisch. Aber in einer Darreichungsform Wirkstoffe für unterschiedliche Indikationsgebiete zu kombinieren – das ist zumindest fragwürdig.
Folgende Kombinationspartner sind möglich: Thrombozytenaggregationshemmer wie Acetylsalicylsäure, das Diuretikum HCT, Statine wie Simvastatin und Atorvastatin, ACE-Hemmer wie Ramipril, Lisinopril und Enalapril. Aber auch Betablocker sind teilweise in Mischungen zu finden. Doch nicht alle Wirkstoffe und/oder Kombinationen erscheinen mehr zeitgemäß.
Die erste Polypille, die in Deutschland die Zulassung erhielt, ist Sincronium®. Sie enthält eine Kombination aus ASS, Atorvastatin und Ramipril und wird zur Sekundärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen eingesetzt. Behandelt werden aber ausschließlich Patienten, die bereits mit den einzelnen Komponenten in den entsprechenden Dosierungen ausreichend eingestellt sind, wobei sich die Kapseln in der Dosierung von Ramipril unterscheiden (2,5 mg, 5 mg oder 10 mg), während ASS mit 100 mg und Atorvastatin in der ungewöhnlichen Wirkstärke von 20 mg jeweils gleich dosiert sind.
Für Hochrisikopatienten mit Hypertonie und Hypercholesterinämie wurde die patientenindividuell dosierbare Dreifachkombination Triveram® entwickelt. Diese enthält den ACE-Hemmer Perindopril, den Caliumantagonisten Amlodipin und den Cholesterinsenker Atorvastatin. Atorvastatin kann – anders als Simvastatin – problemlos in allen Dosierungen mit Amlodipin kombiniert werden, da es über einen anderen Stoffwechselweg metabolisiert wird.
Australische Forscher haben nun untersucht, ob man nicht gleich initial eine Viererkombi einsetzen sollte – dann aber jeden Wirkstoff nur mit einem Viertel der Standarddosis. 37,5 mg Irbesartan als AT-1-Blocker, 1,25 mg Amlodipin als Calciumantagonisten, 6,25 mg Hydrochlorothiazid als Diuretikum und 12,5 mg Atenolol als Betablocker einmal täglich.
Die Idee dahinter: Die meisten Hypertoniker erhielten Recherchen zufolge eine Monotherapie. Die sei aber selbst in hohen Dosen nicht effektiv. Das Aufdosieren werde in der Praxis oft versäumt. Daher benötige man bessere Strategien, die wirksam, aber trotzdem gut verträglich seien. Die Lösung könnte eine Kombinationstherapie sein, bei der die Einzelkomponenten niedriger dosiert sind.
Im ersten Teil der Studie fehlte der Placeboarm und die Blutdrucksenkung war mit 5/2 mm Hg doch recht moderat. Die Studie ist auch wegen der geringen Zahl von nur 18 Probanden in der Endphase und weiterer methodischer Mängel kaum aussagekräftig. Auch die Zusammensetzung wirkt nicht zeitgemäß: Betablocker werden im Vergleich zu anderen Blutdrucksenkern seit einiger Zeit kritisch gesehen. Sie steigern das Diabetesrisiko, fördern Übergewicht und sind bei Asthma sehr problematisch. Allenfalls der Ansatz, die Wirkstoffe erheblich geringer zu dosieren als bisher üblich, scheint beobachtungswürdig.
In Iran wurde im Rahmen der Golestan Cohort Study eine randomisierte Studie durchgeführt. Die Probanden erhielten entweder eine Polypille oder nur die ortsübliche minimale medizinische Versorgung. Behandelt wurden Einwohner im Alter von 50 bis 79 Jahren. Etwa jeder zehnte Studienteilnehmer hatte bereits ein schweres Herz-Kreislauf-Ereignis erlitten und mehr als drei Viertel hatten zuvor herzwirksame Medikamente eingenommen.
Die Polypille enthielt 5 mg Enalapril, 12,5 mg Hydrochlorothiazid, 20 mg Atorvastatin und 81 mg ASS. Bewohner, die auf den ACE-Hemmer Enalapril mit Husten reagierten, konnten auf eine Polypille wechseln, die stattdessen 40 mg des AT-1-Blockers Valsartan enthielt. Der primäre Endpunkt der Studie war das Auftreten schwerwiegender kardiovaskulärer Ereignisse.
Der Endpunkt trat innerhalb von 5 Jahren bei 202 von 3.421 Personen (5,9 %) auf, die die Polypille erhalten hatten, gegenüber 301 Ereignissen bei 3.417 Personen (8,8 %) in der Kontrollgruppe. Das Risiko wurde demnach um 34 Prozent gesenkt. Die Schutzwirkung war am größten bei Patienten, die Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Vorgeschichte aufwiesen.
Es kam allerdings zu einer erhöhten Rate von Blutungen. In der Polypillen-Gruppe erlitten 21 Teilnehmer eine intrakranielle Blutung und 13 Teilnehmer eine Blutung im oberen Gastrointestinaltrakt. In der Kontrollgruppe waren es 11 und 9 Teilnehmer.
Trotz der auf den ersten Blick positiven Ergebnisse bleiben zahlreiche Fragen offen. Die Dosis an ASS ist vergleichsweise gering. Das Probandenkollektiv gehörte ausnahmslos zur ländlichen Bevölkerung mit schlechter medizinischer Betreuung. Ob diese Ergebnisse auf die westliche Welt übertragbar sind, ist fraglich.
Der kleinste gemeinsame Nenner aller Polypill-Konzepte ist der Eingriff in die Thrombozytenaggregation. Auf den ersten Blick ergibt das auch Sinn, denn die Gerinnung ist maßgeblich in die Entstehung von Schlaganfällen und Herzinfarkten eingebunden. Es muss jedoch zwischen einer Reinfarktprophylaxe und einer Infarktprophylaxe differenziert werden.
Thrombozytenaggregationshemmer wie ASS oder Clopidogrel wirken unbestritten beim akuten Infarkt (NSTEMI, STEMI). Auch bei der Verhinderung eines Reinfarktes sind sie wirksam, obwohl hinsichtlich der Dosierung keine Einigkeit herrscht. Aktuelle Daten legen nahe, dass eine Thrombozytenaggregationshemmung keinen Benefit in der Primärprophylaxe cerebraler oder kardialer Ereignisse darstellt.
In der im August 2018 vorgestellten ARRIVE-Studie mit mehr als 12.500 Teilnehmern mit kardiovaskulären Risikofaktoren konnte ASS in der Primärprävention nicht überzeugen. Ebenso wenig gelang ein deutlicher Nutzennachweis in der einen Monat später veröffentlichten ASPREE-Studie mit rund 19.000 gesunden Senioren. Denn: Die Zahl der an Blutungen verstorbenen Probanden überstieg deutlich die derjenigen Teilnehmer, die keine cerebralen oder kardialen Ereignissen erlitten und überlebten.
Auch die ASCEND-Studie lieferte keine überzeugenden Ergebnisse. Da die meisten Polypillen ASS enthalten und einige auch für die Primärprophylaxe gedacht sind, fällt das produktive Kartenhaus in sich zusammen.
Auch die renommierte Mayo Clinic mit Sitz in Rochester, Minnesota, sieht den Nutzen von Ansätzen für Polypillen recht kritisch.
Für die Cochraine-Library bleibt der Erfolg solcher Polypillen hinter den Erwartungen zurück. Insgesamt scheint die Polypille nicht besser zu wirken als die Kombination einzelner Wirkstoffe.
Mit Sicherheit steigert eine orale Darreichungsform mit unterschiedlichen Wirkstoffen die Adhärenz. In einer Zeit, in der die Pharmakotherapie immer patientenorientierter wird, erscheint eine Polypille jedoch fraglich. Die Studienlage zur Primärprävention und zur Dosierung von ASS sind nicht geklärt. Hinzu kommt, dass grundsätzlich zwischen einer Primärprävention bei Patienten ohne cerebrales und/oder kardiales Ereignis, aber mit Risikofaktoren und solchen, die bereits einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben, unterschieden werden muss. Bevor diese Fragen nicht beantwortet sind, ist die Entwicklung jeglicher Polypille eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten.
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