Ein neuer Querschläger der Alternativmedizin: Ist Folsäure bei Schwangeren vielleicht völlig wirkungslos? Wissenschaftler dementieren dies und präsentieren aktuelle Zahlen. Sie fordern sogar explizit Zusätze bei Lebensmitteln.
Heilpraktikern sind Supplementationen seit kurzer Zeit ein Dorn im Auge. In Vorträgen oder auf Websites warnen sie vor häufig abgegebenen Vitaminen: „Es gibt überall nur vage Aussagen, dass B12 und Folsäure das Risiko einer Spina bifida deutlich senken, aber keine Zahlen.“ Und weiter heißt es: „Eine Studie, die gerade heftige Aufregung verursacht hat, hatte ergeben, dass Folsäuregaben während der Schwangerschaft für fettere Kinder sorgen.“ Nach fundierten Quellen suchen Ärzte und Apotheker vergebens. Ein Grund mehr, die wissenschaftliche Literatur zu Rate zu ziehen.
In den USA müssen Hersteller Getreideprodukte seit 1998 mit Folsäure anreichern. Der Wert liegt bei 140 µg pro 100 Gramm. Jennifer Williams, Atlanta, hat jetzt ermittelt, zu welchem Effekt diese gesetzliche Regelung führt. Als Basis dienten 19 bevölkerungsbasierte Surveillance-Programme. Bei Spina bifida verringerte sich die Prävalenz von 6,5 auf 4,0 Kinder pro 10.000 Lebendgeborene. Rein rechnerisch werden 904 Fälle pro Jahr vermieden. Zu ähnlich beeindruckenden Zahlen kommt Williams bei der Anenzephalie. Hier verringerte sich die Rate von 4,2 auf 2,9 pro 100.000. Durch Folsäure im Getreide gibt es folglich 422 Erkrankungen weniger pro Jahr. Deutschland scheut sich momentan, entsprechende Maßnahmen umzusetzen. Schwangeren Frauen bleibt nur, Folsäure zu substituieren.
Dass diese Strategie in Europa ihr Ziel nicht erreicht, zeigt eine populationsbasierte Studie von Babak Khoshnood, Paris. Zusammen mit Kollegen hat er Daten von 12,5 Millionen Geburten der Jahre 1991 bis 2011 analysiert. Khoshnood fand 11.353 Neuralrohrdefekte, die nicht mit Chromosomenanomalien in Verbindung standen. Auf europäischer Ebene liegt die Gesamtprävalenz bei 9,1 Fällen auf 10.000 Geburten. Zu wesentlichen Änderungen kam es im beobachteten Zeitraum nicht. Bleibt als Fazit, dass es in Europa keine effektive Präventionsstrategie für den Neuralrohrdefekt gibt. Chronische Krankheiten, Antiepileptika oder Tabakkonsum führen zu ähnlichen Fehlbildungen. Trotzdem gilt Folsäure-Mangel als häufigste Ursache. Khoshnood empfiehlt, auch bei uns Nahrungsmittel anzureichern.
Damit nicht genug: Ein Bluttest könnte die Riskoabschätzung verbessern, schreibt Krista Crider, Atlanta. Auf Basis von Kohrortenstudien berichtet sie von der Möglichkeit, Risiken abzuschätzen. Bei einem Folsäurespiegel von 500 nmol/l fand sie 25,4 Neuralrohrdefekte auf 10.000 Geburten – verglichen mit sechs Fällen bei 1.180 nmol/l. Als Grenzwert schlägt die Wissenschaftlerin 1.000 nmol/l vor. Alle Werte beziehen sich auf Folsäure in Erythrozyten. Die Veröffentlichung hat einen Haken: Bluttests machen nur bei Frauen mit Kinderwunsch Sinn, aber nicht während der Schwangerschaft. Neuralrohrdefekte entstehen in den ersten Wochen der Gravidität – zu diesem Zeitpunkt sollte der Folsäurespeicher bereits gefüllt sein. Aus wissenschaftlicher Sicht bestehen an der Sinnhaftigkeit keine Zweifel.