Immer häufiger haben unserer Patienten inzwischen eine Patientenverfügung. Doch die Umsetzung erschwert den Klinikalltag oft eher, als dass sie ihn erleichtert.
Nach meinem letzten Post war die logische Konsequenz, etwas genauer über Patientenverfügungen (PV) zu schreiben. Nachdem in den letzten Jahren viel für PVs geworben wurde, sehen wir es heute immer mal wieder, dass Patienten solche Dokumente haben – doch nicht immer werden sie umgesetzt. In manchen, eigentlich sogar vielen Fällen können sie gar nicht richtig umgesetzt werden. Hier sind die häufigsten Gründe dafür:
„Ja, die Angelika hat schon eine Patientenverfügung, ich glaube, die liegt beim Hausarzt/Notar/Enkel/irgendwo in einer Schublade.“ Der Hausarzt ist dann natürlich nicht erreichbar, weil Wochenende oder Ferien sind, der Notar hat sowieso nur Bürozeiten, der Enkel ist gerade auf Weltreise und kommt erst in zwei Monaten wieder und die Schublade entpuppt sich als Schachtel mit etwa fünftausend losen Fresszetteln, unter denen das Dokument kaum zu finden ist.
Tipp: PV beziehungsweise Kopien davon an mehreren Orten deponieren. Eine beim Hausarzt, eine zuhause im Safe/einer Dokumentenmappe/in einem Ordner, zusammen mit den restlichen medizinischen Unterlagen. Außerdem bei zwei, drei verschiedenen Angehörigen (deren Kontakt vielleicht im Portemonnaie hinterlegt ist). Ich wäre ja auch ein großer Fan davon, solche Dokumente bei der Krankenkasse abzulegen, aber da sind wir ja noch weit von entfernt.
„Ja, er hat vor sieben Jahren schon geschrieben, er wolle keine Operationen und lebenserhaltenden Massnahmen mehr. Aber unsere Tochter erwartet bald ihr erstes Kind, und Hans-Jakob würde so gerne seine Enkelin noch kennenlernen! Bis dann will er noch durchhalten, hat er gesagt.“
Wir kennen die Patienten nicht und müssen uns daher auf die Aussagen von Familienmitgliedern, Betreuern und Hausärzten verlassen. Meinungen können sich durchaus ändern, das können wir aber nicht riechen. Im Allgemeinen gilt bei uns: Wenn die PV jünger als ein Jahr ist, gehen wir davon aus, dass sie stimmt. Wenn sie älter ist und jemand plausibel dagegen argumentiert, sind wir dafür offen.
Tipp: Verfügung aktuell halten, wenn möglich alle ein bis zwei Jahre erneut unterschreiben und seinen Willen bestätigen und Änderungen notieren. Die PV muss nicht notariell beglaubigt sein, um zu gelten.
„Wie, der Erwin hat der Ärztin bei Aufnahme gesagt, er wolle nicht reanimiert oder intubiert werden? Das hat er mir aber nie gesagt! Das glaube ich nicht, das war bestimmt ein Missverständnis. Das hat die Ärztin ihm in den Mund gelegt, weil er alt ist. Intubieren Sie ihn!“
Jeder soll für sich selber entscheiden, selbstverständlich. Es ist allerdings eine schwierige Situation, wenn Angehörige, gerade die engen Bezugspersonen, (z.B. Ehe-/Lebenspartner, Kinder etc) keine Ahnung davon haben, was denn der Patient wirklich will. Erwin wollte oder konnte vielleicht mit seiner Frau nie darüber reden, dass er eigentlich schon lieber sterben möchte, sollte es soweit kommen. Alleine mit der Ärztin, die ihn gezielt danach fragt, mag er seinen Willen dann aber äußern. Das führt, gelinde gesagt, zu Spannungen, zu Unverständnis und Wut seitens der überrumpelten Ehefrau und endet schließlich darin, dass man eben doch intubiert. Erwin wird also intubiert und zwei Tage später findet sich dann beim Hausarzt eine PV, in der solche Massnahmen ganz klar abgelehnt werden.
Tipp: Angehörige informieren über den eigenen Willen oder zumindest darüber, dass man eine PV hat und wo die ist. Mit manchen Menschen ist es schwierig bis unmöglich, über solche Themen zu sprechen. Es ist okay, wenn man sich selbst oder ihnen diesen Konflikt ersparen möchte. Aber zumindest wissen, dass ein Dokument vorhanden ist und wo es sich befindet, sollten Angehörige schon.
Das ist gar nicht so selten. Man muss sich bewusst sein, dass es hier um Leben und Tod geht. Das ist eine extrem belastende Situation für Angehörige. Sie sind vielleicht noch nicht bereit, loszulassen und sperren sich. Nun kommt es ja zu dieser Situation, weil Friedrich seinen Willen nicht mehr äußern kann. Das heißt, er kann sich auch nicht beklagen, wenn man an ihm Maßnahmen vornimmt, die er eigentlich nicht möchte. Friedrichs Familie hingegen kann einen riesigen Aufstand machen, das Spital verklagen, mit der Presse drohen und so weiter. Da ist es nun mal einfacher, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.
Tipp: Hmmm, das ist schwierig. Prinzipiell gilt dasselbe wie bei Punkt 3), man sollte seine Angehörigen über seinen Willen/seine PV informieren. Unter Umständen hilft das aber nicht. Angehörige sind eben auch nur Menschen.
Für mich der traurigste Punkt auf dieser Liste, kommt aber durchaus vor.
Hannah-Maria ist schwer dement und im Pflegeheim gestürzt. Dabei hat sie sich die Hüfte gebrochen. In der PV steht „keine lebensverlängernden Massnahmen, keine Operationen“. Der Chirurg argumentiert: Wenn man nicht operiert, ist die Patientin bettlägrig, hat Schmerzen und entwickelt diverse Komplikationen. Das ist ihr sicheres Todesurteil, ohne OP verstirbt sie innert Wochen. Das ist also eine lebensnotwendige Operation, und die sollte man doch schon noch machen, oder? Klar, es ist möglich, dass Hannah-Maria auf dem Tisch verstirbt, aber so gibt man ihr wenigstens eine Chance.
Die Angehörigen lassen sich dann überreden – weil, der Herr Doktor hat’s ja gesagt. Und, schwupps, liegt Hannah-Maria auf dem OP-Tisch. Auch wenn sie Glück hat und keine Komplikation auftritt, ist die Prognose nach dieser Art Operation im hohen Alter extrem schlecht, viele Patienten überleben danach kein Jahr. Hat sich das wirklich gelohnt? Und hätte Hannah-Maria das wirklich gewollt?
Der Chirurg hat’s natürlich nur gut gemeint. Chirurgen sind Flicker. Etwas ist kaputt, ich mach’s wieder ganz. Es ist schwierig, einfach zu sagen: „Na, dann machen wir das halt nicht und lassen sie einfach sterben.“ Wir sind schließlich Ärzte geworden, um zu helfen – nicht, um Todesurteile zu unterschreiben. So was geht gegen unseren Instinkt.
Tipp: In erster Linie ist da bei uns Ärzten anzusetzen. Solche Entscheidungen sollten nie nur durch eine Person gefällt werden, sondern im Team, interdisziplinär und im Idealfall mit einem Ethiker. Weiterbildungen in Ethik könnten helfen. Oder ein Rahmen, in dem solche Fälle nachbesprochen und diskutiert werden können. Das gibt es alels auch schon, allerdings gehört das vielerorts noch nicht zum Standard.
Angehörige können hier aber auch etwas tun. Gerade bei Patienten im Pflegeheim, die ihrem Lebensende entgegengehen, kann das Erstellen eines klaren Konzepts sinnvoll sein. Man macht zum Beispiel mit dem Heimarzt ab, dass die Patienten bei diesen oder jenen Problemen nicht mehr ins Spital gebracht, sondern rein palliativ im Heim behandelt werden. So kann die ganze Maschinerie gar nicht erst ins Rollen kommen. Das funktioniert allerdings hauptsächlich bei medizinischen Problemen, wie Herzinsuffizienz oder COPD.
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